Aufs Land

von 

Die Corona-Pandemie hat zu einer neuen Stadtflucht geführt oder sie zumindest kanalisiert, gesamtgesellschaftlich, aber eben auch in der Kunst. In einem Essay blickt der Autor Pablo Larios zurück auf die alte Ordnung—und wirft einen Blick auf die neue.

Von meinem Fenster in Berlin aus sieht die Stadt mehr oder weniger so aus wie vor der Pandemie. An einem Sonntag sind die Geschäfte geschlossen; auf der Straße sind nur eine Handvoll Leute; die Bars: schläfrig, verdunkelt. Die Stadt hatte schon vor der Ära der Abstandsregeln und Kontaktreduktion einen Gang heruntergeschaltet. Das Gefühl, der ›Look‹ der Gentrifizierung verblasste bereits, trotz sprunghaft ansteigender Mieten. Befreundete Künstler*innen aus Lissabon, Oslo oder Shanghai waren längst wieder zurück in Portugal, Norwegen, China. Die Stadt fühlte sich zerrissener an und weniger international.1 Und mit den Gesprächen verhielt es sich genauso.

Einen Abend in einer Berliner Galerie zu verbringen, hieß noch vor gar nicht allzu langer Zeit, sich mit etwa hundert Menschen in einen hell ausgeleuchteten Kunstraum in einer Beletage zu zwängen und sich auf einer Art internationalem Englisch zu unterhalten. Heute ist das anders. Die Vernissagen sind kleiner, die Unterhaltungen zerfasert. Sowieso, ich habe nur noch selten das Gefühl zu begreifen, worum sich diese Unterhaltungen drehen, was ›das Gespräch‹, wie ich es nennen möchte, denn überhaupt noch ist. Und das liegt weder an der Sprache, die wir sprechen, noch an der Größe des Raums. Gut möglich, dass das Gespräch am anderen Ende der Stadt stattfindet oder gleich in einer anderen Stadt, in Paris vielleicht oder in Seoul. Aber die Frage bleibt: Wo schlägt denn aktuell der Puls der Zeit?

»Die Frage bleibt: Wo schlägt denn aktuell der Puls der Zeit?«

Zwei sich gegenseitig ausschließende Narrative lassen sich meiner Meinung nach als Grund für diese Dezentralisierung heranziehen. Die erste Theorie besagt, dass der Schwarm einfach weitergezogen ist—an einen anderen, billigeren Ort. Die zweite Theorie aber, komplexer und plausibler, sagt Folgendes: Die Verbindung von Sichtbarkeit und wirtschaftlichem Zugang, die es Städten ermöglichte, zu Metonymien der Konnektivität wie auch deren künstlerischer Externalisierung zu werden, ist dabei sich zu lösen. Anders gesagt: Ich glaube, das Gespräch findet immer weniger überhaupt in den Städten statt (oder als Gespräch über die Stadt). Jedenfalls nicht in der Konzentration, wie ich es von früher kenne.

Ich schreibe das in der Zeit nach der Corona-Pandemie und nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Die kombinierte Wucht dieser beiden Ereignisse hat etwas zu Ende gebracht. Die 2010er-Jahre markierten einen Gipfel der globalen Mobilität in Sachen Arbeit. Die Metapher für diesen Puls der Zeit war damals ›die Cloud‹, ein sich rasch über die ganze Welt ausbreitender Überbau, wenngleich auf Grundlage des Humankapitals prekärer Gig-Arbeiter*innen und einer technischen Infrastruktur. Vor Ort materialisierte sich die Cloud im gesichtsstraffenden Mechanismus der sich ständig weiter gentrifizierenden, ständig verbundenen, ständig ›teilbaren‹ Stadt.

Der Puls der 2020er-Jahre aber fühlt sich für mich eher unterirdisch an, eher wie ein subtiles Beben, dezentral. Und im selben Maß, in dem Inhalte algorithmisch generiert und erlebt werden, in dem Kultur immer mehr in Mikrokulturen aufgeht, werden diese Beben kleiner, individualisierter, strahlenförmiger—und werden somit weniger gemeinschaftlich erlebt. Wir haben es nun mit einem Gespräch eins zu eins zu tun. Und dessen Raum ist das gemütliche Zuhause; die Droge eher Marihuana als Speed oder Ecstasy; die Aktivität eher Kochen, und weniger das Flanieren durch die Straßen der Hauptstädte.2

Dieses Auseinanderbrechen des Gesprächs spiegelt wider, was Soziolog*innen und Gesundheitsexpert*innen festgestellt haben, nämlich, dass die Menschheit immer atomisierter wird und der Mensch immer einsamer.3 Wenn die Stadt im 19. und 20. Jahrhundert der Raum der Kunst war, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie einen Raum bot für eine bürgerliche Form der Sichtbarkeit—und weil urbane Ballungszentren, ob nun im Osten oder Westen, Orte waren, wo ein von kolonialer und territorialer Eroberung angetriebener Kapitalismus sein Primat behauptete, aber eben auch einen Materialismus der Kultur ermöglichte.

Man denke nur an das erstaunliche Echo, das ein breit zitiertes Statement von Maynard Keynes aus dem Jahr 1919, also vor dem Ersten Weltkrieg, heutzutage auszulösen imstande ist: »Der Bewohner Londons konnte, seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedenen Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, daß man sie alsbald an seiner Tür ablieferte.«4 Der Erste Weltkrieg deckelte die wirtschaftliche Globalisierung, zumal im Verbund mit einer Pandemie, die hinsichtlich Ausmaß und Dauer mit der aktuellen vergleichbar ist. Heute haben wir Engpässe, steigende Gaspreise, Handelskriege und, einmal mehr, einen neuen echten Krieg in Europa.

»Wenn die 2020er-Jahre in irgendeiner Weise tosend und wild sind, dann eher wegen des Klimawandels. Und weniger wegen Partys à la Babylon Berlin.«

Das bedeutet nicht, dass es heutzutage keinen kulturellen Austausch gäbe oder dass man in den Städten kein relativ gleichbleibendes Angebot an entsprechend konzentrierter Aktivität vorfände. Es heißt eher, dass es Bewegung eben eher in den Nebenarmen gibt als in irgendeinem der Hauptströme. Wenn die 2020er-Jahre in irgendeiner Weise tosend und wild sind, dann eher wegen des Klimawandels. Und weniger wegen Partys à la Babylon Berlin.

Ein Bild kommt mir in Kopf: Der Raum, um den es geht, ist nicht mehr der eines Clubs auf einem alten Industriegelände, in einem Kraftwerk zum Beispiel, das neu und anders wieder in Betrieb genommen wurde und wegen seiner freiliegenden Rohre geschätzt wird. Heute tanzen junge Menschen in Parks oder auf dem Feld auf selbstorganisierten Parties—wie Aussteiger*innen, die einen imaginierten Rave aus den 1990er-Jahren wieder aufleben lassen. Das Berghain zeigt währenddessen Kunst. War das Vehikel materieller Kultur in den 2010er-Jahren die Gentrifizierung mit ihrem Versprechen von Aufstieg und Expansion, ihrer Verdinglichung und ihrem erneuten Aufpolieren eines Looks der Produktionsmittel (Fabriken, Lagerhallen, Industriestätten)—dann ist im neuen Jahrzehnt etwas Diffuseres an diese Stelle getreten.

»Die kulturell wirksame Metapher verschiebt sich indes ins Außen, geht vom umgenutzten Industriestandort auf den Garten über, auf das Feld, das Terrain. Der Rave findet nun draußen statt.«

Ein außerstädtisches Prekariat, so nomadisch wie Pollen, fühlt sich von der gut bezahlten Aufstiegswelt des mittleren Managements und der Karriere permanent ausgeschlossen. Und während der Einzelhandel stirbt, werden aus den Städten Orte eines neuen Feudalismus, der sich aus Erbschaften, aus dem Tourismus und der Investition speist. Die kulturell wirksame Metapher verschiebt sich indes ins Außen, geht vom umgenutzten Industriestandort auf den Garten über, auf das Feld, das Terrain. Der Rave findet nun draußen statt.

Man könnte das alte Regime als WeWork-Ära bezeichnen. Sichtbarkeit ließ sich im Kunstsektor früher anhand der Galerieprogramme und der Topografie wichtiger, geschmacksbildender Ausstellungen nachverfolgen. Beides scheint heute weder wichtig noch geschmacksbildend. Das Seil des Kanons hat sich aufgefranst, die großen Galerien zeigen alle dasselbe, und das hängt dann über einem Sofa im Soho House in einer Duftwolke von Le Labo. Es gibt bestimmt zahlreiche wirkliche Geschmacksbildner*innen, aber von den meisten hat man wahrscheinlich noch nie etwas gehört. KAWS stellt im Brooklyn Museum aus. Kultur ist eine Sneaker-Kooperation. Aktivität konzentriert sich nicht mehr an einem Ort; sie findet auf TikTok statt.

Nach einem Jahrzehnt größtmöglicher Globalisierung, in dem der Schwarm von New York oder London oder Mailand über Basel und Miami reiste, ist die Sichtbarkeit der Kunst verteilt und verstreut. Kunst findet sich in jeder Ecke der Welt, allerdings nur als dünner Firnis. Nicht, dass nichts passiert—Inklusion hier, markttaugliche Figuration dort, mal die harte Faust der institutionellen Kritik, dann eine von einem Großsammler gegründete Stiftung, und noch eine Rekorde brechende Auktion—aber man hat es hier mit einer Kultur zu tun, die viel zu aufgesplittert ist, als dass man als Einzelperson ein Gefühl für das große Ganze bekäme.

»KAWS stellt im Brooklyn Museum aus. Kultur ist eine Sneaker-Kooperation. Aktivität konzentriert sich nicht mehr an einem Ort; sie findet auf TikTok statt.«

Dieselbe Logik, die eine unter anderen Umständen aufstiegsorientierte Klasse von den alten und etablierten Foren von Status und Anerkennung fernhält, personalisiert nun deren individualisierte Gewohnheiten, um von ihnen zu profitieren, wie immer natürlich algorithmisch. Aber genau dank dieser Logik der Streuung, dank dieser Mechanismen, die kollektives Erleben aufkündigen, kann es kein Zentrum geben, keine Kunst-Hauptstadt oder überhaupt eine Hauptstadt. Gut möglich, dass das Feld, den Elementen ausgesetzt, die Stadt, abgeschottet wie sie ist mit ihrem Graben und durchfurcht von den Narben der Extraktion, ersetzt hat. Und das ist das neue Gespräch.

Blicke ich auf dieses Terrain und höre das neue Gespräch (oder eben nicht), dann scheint der Raum der Kunst keineswegs der gleiche Raum zu sein wie früher. Der künstlerische Kanon des zwanzigsten Jahrhunderts wurde nicht dezentralisiert, er hat sich nur in einem profitablen Raum der relativen Unsichtbarkeit eingenistet. Was aber dezentralisiert wurde, das ist die aktuelle künstlerische Praxis—insofern, als dass sie nun außerhalb der Museen und Galerien stattfindet und nicht mehr primär in städtischen Agglomerationen angesiedelt ist. Städte haben sich verändert und werden mehr und mehr zu leeren Behältern, in denen man Vermögen parkt. Im Falle der Museen verhält es sich genauso. Und ich vermute, dass die Kunst, als Set bestimmter Praktiken, sich dabei fast gänzlich verabschiedet hat.

»Nur außerhalb der Städte lässt sich für mich ein klares Gefühl dafür bekommen, was geschieht, lässt sich der kohärenteste Eindruck einer in der Praxis existierenden visuellen Kultur erlangen.«

 

Im Zentrum meines Interesses an außerstädtischen künstlerischen Praktiken steht die Spaltung zwischen dem, was wir zu sehen bekommen und dem, was wir nicht sehen. Nur außerhalb der Städte lässt sich für mich ein klares Gefühl dafür bekommen, was geschieht, lässt sich der kohärenteste Eindruck einer in der Praxis existierenden visuellen Kultur erlangen. Auf einer Tour durch die Galerien von Berlin oder Paris oder bei einem Besuch in einem Atelier in einer dieser Städte setzt sich dieses Bild bei mir aus den oben beschriebenen Gründen frustrierenderweise nicht zusammen.

Schon seltsam, dass ich ausgerechnet auf dem Bauernhof, im Freiluftatelier, bei einem Workshop oder Festival, beim Besuch bei eine*r Studiokünstler*in, die nur zeitweise in der Stadt lebt, den kohärentesten Eindruck davon zu bekommen scheine, was künstlerisches Leben heute bedeutet, im Zeitalter faktisch eingeschränkter Mobilität, in dem die Benzinkosten die Flugpreise in die Höhe schnellen lassen, in dem Sichtbarkeit keine Währung mehr ist, in dem Städte einzig und allein an ihrem Vermögensmanagement arbeiten, um neue Märkte ›anzuzapfen‹, in dem Handelskriege—oder eben jetzt reale Kriege—der Globalisierung, wie wir sie seit den 1990er-Jahren zu schätzen gelernt hatten, einen Dämpfer verpassen.

In der Praxis setzen vor allem solche Künstler*innen dieser Aushöhlung der Städte—im Sinne früherer Konfigurationen von Visibilität und Mobilität—etwas entgegen, die mehr daran interessiert sind, neue Institutionen zu gründen, als vor den alten zu tanzen. Und der Raum dieser neuen Grenze, dieser außerstädtische Raum, wird dabei weniger als Vorwand für eine Expansion begriffen, und vielmehr als Chance für die gesellschaftliche Neuorganisation.

»Dieser Aushöhlung der Städte setzen vor allem solche Künstler*innen entgegen, die mehr daran interessiert sind, neue Institutionen zu gründen, als vor den alten zu tanzen.«

Künstler*innen wie Seth Price und Ryan Gander, Mary Reid, Patrick Kelley oder Grace Ndiritu haben alle damit begonnen, sich ernsthaft für das Leben außerhalb der Städte zu interessieren. Sie leben zumindest zeitweise in früheren Bauernhöfen, Kommunen oder Hütten im Wald oder betreiben ihre Ateliers längst jenseits der großen Städte. Rund um Berlin finden Künstler*innen, beispielsweise Dirk Bell oder Danh Vo, Zuflucht in Brandenburg, zum Wohl oder Leid der Einheimischen—oder der anderen Künstler*innen, die dort leben. Es ist eine ziemlich wilde Mischung: relativ gutsituierte Aussteiger*innen, die es sich leisten können, sich auf dem Land halb zur Ruhe zu setzen; Künstler*innen mit ausreichend akkumuliertem Prestige und Kapital, um Räume zu kaufen, die ihnen einen radikalen Abstand ermöglichen, aber auch mit den Mitteln, neue Systeme zu etablieren oder sich dort, wie in einer Art privatem Museum, um den eigenen Nachlass zu kümmern; und wieder andere, die aus finanziellen, gesundheitlichen oder ethischen Gründen nicht in der Stadt leben wollen oder können. All das ruft Fragen der Sichtbarkeit und des Zugangs auf den Plan, aber eben auch nach einer neuen Gentrifizierung des ländlichen Raums.

In den meisten Fällen legen diese Künstler*innen ein Interesse an Lebensmitteln und deren Produktion an den Tag, an Gärten als einem nachhaltigen Korrektiv für anthropozentrische Extraktion und Ausbeutung. Oft ist auch von Handwerk und Heilung und Spiritualismus die Rede, aber nicht im Sinne von Modebegriffen, sondern als Chiffren für eine Reihe von Praktiken, die für künstlerische Arbeit, wie sie gerade neu konzeptualisiert wird, wesentlich sind. All das sind Praktiken, die in den Städten längst nicht mehr möglich sind.

Anders gesagt: Das Ländliche wird einerseits gerade zu einem Ort der Romantisierung und Flucht, andererseits aber des tatsächlichen Engagements und der Innovation. Das Ländliche ist ein Raum, im dem sich die anderswo in der Gesellschaft stattfindenden Veränderungen visualisieren lassen. Der Kunsthalle, dem Museum, der Kunstmesse gelingt das nicht mehr. Um zu begreifen, was gerade geschieht, müssen wir tiefer suchen und weiter schauen. Und wer weiß, vielleicht ja auch die Stadt ganz hinter uns lassen.


Dieser Text ist die gekürzte und verdichtete Fassung einer dreiteiligen Serie zur Frage des Ländlichen in den neuen wilden Zwanzigern, die 2021 und 2022 zuerst in Mousse (Ausgabe 77, 78 und 79) erschienen ist. Vielen Dank an Mousse.

1 Das deutsche Statistische Bundesamt berichtete am 14 OKT 2021 einen Tiefststand an Zuwanderungen aus dem Ausland in Städte mit einer Bevölkerung von mehr als 100.000 Einwohner*innen; zwischen 2019 und 2020 nahm die Zahl der Menschen in Deutschland, die in Städten leben, im Vergleich zum Vorjahr zudem leicht ab.
2 2019 prägte der Blog Ribbonfarm den Begriff ›domestic cozy‹, also häusliche Gemütlichkeit, um damit die Generation Z und deren Kombination von Privatsphäre und Bequemlichkeit zu charakterisieren. »[Häusliche Gemütlichkeit] findet ihren besten Ausdruck im Privaten, unter Freund*innen, statt in der Öffentlichkeit, unter Fremden.« Venkatesh Rao, ›Domestic Cozy‹, ›Ribbonfarm‹, 4 MÄR 2019, https://www.ribbonfarm.com/series/domestic-cozy/. Siehe auch Jack Self, ›The Big Flat Now‹, ›032c‹, 16 DEZ 2018, https://032c.com/the-big-flat-now-power-flatness-and-nowness-in-the-third-millennium.
3 2020 veröffentlichte der frühere Sanitätsinspekteur Barack Obamas einen Bestseller über die Epidemie der Einsamkeit: Vivek H. Murthy, ›Together: The Healing Power of Human Connection in a Sometimes Lonely World‹ (New York: Harper Wave, 2020). Siehe auch Reed Abelson, ›Social Isolation in the U.S. Rose Even as the COVID Crisis Began to Subside, New Research Shows‹, ›New York Times‹, 8 JUL 2021, https://www.nytimes.com/2021/07/08/health/coronavirus-pandemic-recovery-social-isolation.html.
4 John Maynard Keynes, ›Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles‹ (Berlin: Berenberg Verlag 2006), S. 45f.