Die leiseste Konzerthalle der Welt

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Foto: Annika Kahrs, Gravity’s Tune (Filmstill), 2023, Courtesy die Künstlerin und Produzentengalerie Hamburg

Töne, Klänge, Musik stehen im Zentrum von Annika Kahrs’ Werk. In der Schering Stiftung ist während der Berlin Art Week nun eine neue Arbeit der Künstlerin zu sehen.

Man muss sie sich vorstellen wie die ringförmigen Wellen, die sich auf der Oberfläche eines Sees bilden, wenn man einen Kieselstein hineinwirft. Nur ungleich massiver in ihrem Ausmaß wie auch in dem, was sie verursachen. Gravitationswellen entstehen beispielsweise, wenn sich zwei schwarze Löcher im Universum umkreisen, sich gegenseitig anziehen und schließlich verschmelzen. Bei Ereignissen im Weltall also, die so gewaltig sind, dass das Raumzeitgewebe verzerrt wird, gequetscht und verschoben, in Bewegung gesetzt wie die Wassermoleküle im See durch die Wucht des Steinchens. Winzig klein wiederum sind die Veränderungen, die sich dadurch auf der Erde ergeben, nicht messbar waren sie lange Zeit. 2015 jedoch gelang es Forschenden des US-amerikanischen LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory) erstmals, solche Gravitationswellen in akustische Signale zu übersetzen. Das war eine wissenschaftliche Sensation, ein Beweis für die Existenz jener Wellen, ein Beleg gleichsam auch für Einsteins Relativitätstheorie.

 

»Was wir bisher nicht sehen konnten, können wir jetzt hören, wir haben quasi Ohren bekommen«, so fasst es die Künstlerin Annika Kahrs zusammen. „Wahnsinnig poetisch“ nennt sie es, dass etwas so Unfassbares und eigentlich Unhörbares hörbar gemacht wurde. Hörbar, nachweisbar, aber dennoch kaum vorstellbar, zumindest für alle ohne Universitätsabschluss in Astrophysik. 1,8 Milliarden Jahre waren jene Gravitationswellen von der Erde entfernt, deren Sound nun Schlagzeilen machte.

 

»Töne, Sound, Musik stehen immer schon im Fokus von Kahrs‘ Interesses, privat wie als Künstlerin. Musik als Material. Musik als Kommunikationsform. Musik als Struktur. Auch als Sinnbild für gesellschaftliche Systeme.«

Eben dieser Klang ist der Ausgangspunkt für Kahrs‘ neueste Arbeit, ›Gravity‘s Tune‹—eine Sound- und Videoinstallation, die sie zur Berlin Art Week in der Schering Stiftung präsentieren wird. Drei Jahre arbeitet Kahrs mittlerweile schon an dem Projekt. Die Dreharbeiten fanden in den USA statt, wo sich die oben genannte Forschungseinrichtung befindet. Kahrs nutzte dafür ihren Stipendienaufenthalt in der Villa Aurora in Los Angeles. Da dieser aufgrund der Coronapandemie immer wieder verschoben wurde, verzögerte sich auch ihr Arbeitsprozess. Das war nicht unbedingt negativ—Kahrs gewann Zeit, über ihre Idee nachzudenken, ihre Kontakte zu den Wissenschaftler*innen zu intensivieren und weitere Fördergelder zu beantragen. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, Ende Juli, ist die Künstlerin gerade mit dem Schnitt beschäftigt. Ein merkwürdiger Moment sei das, um über die Arbeit zu sprechen: »Im Schnitt entscheidet sich noch mal ganz viel, und man versteht erst so richtig, was es am Ende wird.«

Annika Kahrs ist keine Naturwissenschaftlerin. 1984 im niedersächsischen Achim geboren, studierte sie unter anderem an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Professor*innen wie Andreas Slominski, Jeanne Faust sowie Harun Farocki. Töne, Sound, Musik stehen immer schon im Fokus ihres Interesses, privat wie als Künstlerin. Musik als Material. Musik als Kommunikationsform. Musik als Struktur. Auch als Sinnbild für gesellschaftliche Systeme.

 

 

Annika Kahrs, 2023, Foto: Helge Mundt

Durch ›Strings‹ aus dem Jahr 2010 wurde die Künstlerin bekannt. Damals studierte sie noch. ›Strings‹, das wie viele Arbeiten Kahrs’ sowohl als Live-Performance wie auch als Video existiert, zeigt ein klassisches Streichquartett, das Ludwig van Beethovens Opus 18 Nr. 4 in C-Moll aus dem Jahr 1800 spielt, beziehungsweise versucht, es zu spielen—und zwar in ständig neuen Rollen. Nach dem ersten Satz stehen die Musiker*innen auf und wechseln ihren Platz sowie ihr Instrument, solange, bis sie wieder an ihrem Ausgangsplatz sitzen—und bis sich die Harmonie in Kakophonie und nervöses Gelächter aufgelöst hat. Die Arbeit ist prototypisch für Kahrs’ Methode. Sie möchte irritieren, neue Konnotationen generieren, Perspektivwechsel schaffen, um »die Dinge, die wir gewohnt sind, ein wenig zu verschieben«, denn das reiche oft schon aus, »um viele der Strukturen offen zu legen, wie bei einem Setzbaukasten, in dem die Dinge sich wieder neu ordnen müssen«.

 

»Wie klingt denn nun eine Gravitationswelle?«

 

Mithilfe solcher Verschiebungen und Neuordnungen entstehen Performances, Soundarbeiten und Videos, die berühren, weil sie direkt erfasst werden können, akustisch wie visuell, aber viele Bedeutungsebenen mit sich bringen. Kahrs geht stets von Musik oder Sound aus, jedoch nicht als Selbstzweck, sondern mit der Absicht, sich dadurch an unterschiedlichen sozialen, gesellschaftlichen, politischen oder wissenschaftlichen Aspekten entlangzuhangeln. Bei ›The lord loves changes, it’s one of his greatest delusions‹ (2018) lässt sie einen Chor gegen Orgelpfeifen anpfeifen—zur Melodie des Lutherchorals ›Ein feste Burg ist unser Gott‹, dem wichtigsten Protestsong der Reformationsbewegung. Auf ›Infra Voice‹ (2018) arbeitet Kahrs mit Tönen, die für das menschliche Ohr fast zu niedrig sind und versucht mithilfe des seltenen Instruments Oktobass mit einer Giraffe zu kommunizieren. In ihrem Beitrag zur Lyon Biennale im vergangenen Jahr wiederum nähert sie sich über Sound und Musik der Geschichte der Lyoner Seidenweber*innen an.

Was sie an der akustischen Übersetzung der Gravitationswellen vor allem fasziniert habe, erklärt Kahrs, sei, dass es sich um eine ganz neue, spektakuläre Erkenntnis handle, die in eine Zeit falle, in der Wissenschaft einen schwierigen Stand habe. Wie klingt denn aber nun eine Gravitationswelle? »Relativ unspektakulär«, sagt Kahrs. Ein ›Chirp‹-Sound sei es, ein Zwitschern, ein Geräusch, das ganz schnell nach oben geht, dann wieder abfällt und auch nur zwei Sekunden dauert. Ein Ton ohne besondere Musikalität, nicht besonders schön, aber voller Informationen, die unsere Sicht auf das Universum nachhaltig verändern könnten. Hier setzt Kahrs an, versucht ihn zu ergründen.

 

»In der Kunst machen wir das ja auch, wir erklären unsere Arbeiten nicht, sondern wir übersetzen sie. Wir gehen von Erkenntnissen oder Systemen aus und spiegeln sie, finden Bilder, eine Übersetzung—oder vielleicht sogar Poesie.«—Annika Kahrs

Eine entscheidende Rolle in ›Gravity’s Tune‹ spiele, so die Künstlerin, »das Finden eines Tons oder das Herausarbeiten eines Musikstücks«. Die Künstlerin holte dafür den Komponisten Louis d’Heudières mit ins Boot, mit dem sie schon seit Jahren zusammenarbeitet. Dieser verarbeitete das wissenschaftlich übersetzte akustische Signal zu einem musikalischen Arrangement, er besorgte also quasi eine Übersetzung der Übersetzung.

Kahrs bringt die zwei Ebenen filmisch zusammen—auf der einen Seite ist da ein zwölfköpfiges Musikensemble, das an und mit der Komposition arbeitet, lebendig, diskutierend; und auf der anderen Seite findet sich die konzentrierte Stille der wissenschaftlichen Einrichtung, im Kontrollraum im LIGO, den die Forschenden dort unter sich als »die leiseste Konzerthalle der Erde« bezeichnen. Kahrs handelt die Verbindungen zwischen Wissenschaft und Musik aus, fragt nach dem musikalischen Potenzial wissenschaftlicher Erkenntnisse ebenso wie nach der Information, dem Wissen, das in Musik steckt und durch sie vermittelt wird.

Darin sieht sie denn auch die Überschneidung zwischen den Disziplinen, zwischen Kunst und Wissenschaft—in den Übersetzungs- und Interpretationsmechanismen. »In der Kunst machen wir das ja auch, wir erklären unsere Arbeiten nicht, sondern wir übersetzen sie. Wir gehen von Erkenntnissen oder Systemen aus und spiegeln sie, finden Bilder, eine Übersetzung—oder vielleicht sogar Poesie.« Annika Kahrs findet sie definitiv.

 

 

DAS KÖNNTE IHNEN AUCH GEFALLEN