Die Puppenspielerin

von 
Gisèle Vienne, ›L’Etang‹, 2020, Foto: Estelle Hanania

Mit ihren Puppen nimmt die Künstlerin Gisèle Vienne eine ganz besondere Stellung zwischen Bühne und bildender Kunst ein. Während der Berlin Art Week sind ihre Arbeiten nun gleich in drei Institutionen vertreten.

Fast klingt er wie eine Warnung, der Titel der Ausstellung, die Gisèle Vienne zur Berlin Art Week im Haus am Waldsee im Rahmen einer gemeinsamen Präsentation dreier Institutionen eröffnet: This Causes Consciousness to Fracture. Nicht weniger als eine Erschütterung, gar das Auseinanderbrechen des Bewusstseins wird da angekündigt. Als Choreografin und Regisseurin hat es Vienne in den vergangenen zwei Jahrzehnten tatsächlich immer wieder aufs Neue darauf angelegt, Wahrnehmungsmuster auseinanderzunehmen. Sie hat ein Vokabular an Verfremdungseffekten entwickelt, etwa indem sie die Geschwindigkeit eines Geschehens stark verlangsamt oder Handlungen auf lebensgroße Puppen auslagert, hat akribisch nach Methoden gesucht, performativ wie dramaturgisch das Nicht-Darstellbare, Nicht-Erzählbare, Unterbewusste, Verdrängte, Traumatische zu erkunden. Ähnliches ist auch für die Ausstellung im Haus am Waldsee zu erwarten, die gemeinsam mit einer weiteren Schau im Georg Kolbe Museum, die unter dem Titel ›Ich weiß, dass ich mich verdoppeln kann‹ Viennes Arbeit im Kontext historischer Vorläuferinnen zeigt, sowie Performances, einem Screening und einem Künstlerinnengespräch in den Sophiensaelen das Werk der französisch-österreichischen Künstlerin zum ersten Mal in ganzer Breite in Berlin vorstellen wird.  

 

Was Vienne umtreibt, sind emotionale Brüche und zwischenmenschliche Krisen, heftige Gefühle. Wut vor allem. Das, was aus dieser folgt und was sie auslöst: Gewalt, physische wie psychische, Machtstrukturen, soziale Ungleichheit, die Normierungsmaschinerie kapitalistischer, neoliberaler Gesellschaften. Viennes Interesse gilt dabei insbesondere der Wut von Jugendlichen, einer Wut, die sich gegen andere oder sich selbst richten kann. »Ich verstehe heute besser, warum ich mit 13 so wütend war«, sagt sie. Weil sie diesen Zorn nicht als subjektive Gefühlsaufwallung betrachtet, sondern ihn vielmehr politisch versteht. Weil es eben nicht nur die Hormone seien, die Jugendliche in Aufruhr versetzen, sondern die Strukturen, in die sie gepresst werden, die Diskriminierungen, die sie erleben. Ungerechtigkeiten zu verstehen, sei der Motor ihrer künstlerischen Arbeit, die sie durch das Befragen unserer Wahrnehmungssysteme erarbeitet, so Vienne. 

 

»Was Vienne umtreibt, sind emotionale Brüche und zwischenmenschliche Krisen, heftige Gefühle. Wut vor allem. Das, was aus dieser folgt und was sie auslöst.«

In der Berliner Werkschau dienen Viennes lebensgroße Puppen, die Jugendlichen nachempfunden sind, sodann als verbindendes Element: In den Sophiensaelen sieht man sie in Aktion, im Film Jerk (2021) sowie dem Stück Crowd (2017). Die Ausstellung im Georg Kolbe Museum wiederum nimmt eine historische Kontextualisierung vor. Dort trifft eine Skulpturengruppe der Künstlerin auf Werke von Protagonistinnen der europäischen Avantgarde, die das Puppentheater – wie ein Jahrhundert später Vienne – als einen Raum für experimentierfreudige Kunst jenseits von Genregrenzen oder anderen Kategorien verstanden. Und im Haus am Waldsee fügt Vienne Puppen aus den vergangenen mehr als 20 Jahren mit Fotografien zu einer vielschichtigen Installation zusammen. Die Künstlerin selbst spricht von einer »Inszenierung«. Denn ähnlich, wie das bei den Tanzchoreografien der Fall ist, mit denen sie bekannt geworden ist, setzt sie auch hier auf ein verschachteltes System an Zeichen, auf unterschiedliche Medien, zwischen denen sich Wechselwirkungen entfachen. Der Raum, seine Geschichte, seine Architektur, das Licht, der Sound, die Bewegung der Besucher*innen und eben die Objekte.

A Puppet Play, ein Puppenspiel, lautet der Untertitel der Schau. Die Puppen werden in deren sogenannte Bewegungslosigkeit gespielt: »Ich finde es notwendig, Stille und Bewegungslosigkeit in Frage zu stellen, denn Stille spricht immer, und es ist immer Bewegung in der sogenannten Bewegungslosigkeit. Das ist interessant, dies im Museum, Ort der gewöhnlichen Stille und Bewegungslosigkeit zu erarbeiten. Dass wir die Ausstellung Puppenspiel nennen, beeinflusst, wie das Publikum diese betrachtet.« Vienne möchte die Rahmen herausstellen, durch die wir die Welt betrachten, darauf aufmerksam machen, »wie Wahrnehmungssysteme unsere Gesellschaft, unsere Psychologie, unseren Körper, unsere soziale Interaktion und unsere Politik bestimmen«, nicht zuletzt, um zu zeigen, »wie man tatsächlich strukturell an der Gesellschaft arbeiten kann«. Diese Stille ist nicht stumm, im Gegenteil: Sie schärft die Wahrnehmung. 

Gisèle Vienne ist 1976 in Grenoble geboren, aufgewachsen in Frankreich und Deutschland. Sie studierte Philosophie, später Puppenspiel. 1999 gründete sie, zunächst gemeinsam mit Etienne Bideau-Rey, ihre Theaterkompanie. Vienne erfand eine eigene Ausdrucksweise, die sich aus Tanz, Puppentheater, Performance, Sound und bildender Kunst zusammensetzt. Auf die multimediale Herangehensweise, die alles, was Vienne tut, auszeichnet, wurde sie schon oft angesprochen. Sie verstehe gar nicht, wie man nicht multimedial arbeiten könne, außer aus politischen Gründen, um manche Sprachmedien stumm zu machen, antwortet sie dann. Schließlich bezögen sich alle Elemente stets aufeinander, im Museum, Theater, Tanz und Film arbeiten wir immer mit Zeichensystemen, die multimedial sind. Gerne bindet Vienne andere Künstler*innen in ihre Projekte ein: »Alles was ich mache, entsteht in Zusammenarbeit«mal mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Dennis Cooper, dann wieder mit der italienischen Komponistin und Musikerin Caterina Barbieri, mit der sie bei der Produktion Extra Life für die Ruhrtriennale 2023 kooperierte. Auch der Titel This Causes Consciousness to Fracture, zitiert übrigens einen Track von Barbieris Album Patterns of Consciousness‹ (2017).

 

»Die Stille ist nicht stumm, im Gegenteil: Sie schärft die Wahrnehmung.«

 

Alles hängt miteinander zusammen, auch inhaltlich. »Man kann über Psychologie nicht ohne Philosophie, nicht ohne Geschichte nachdenken«, sagt Vienne. Körperlichen Ausdruck versteht sie als philosophische Denkmethode, Choreografien als Texte: »Ich schreibe mit diesen Darstellungen von Jugendlichen eine Choreografie, die davon erzählt, welche Art von Gefühlen diese gesellschaftliche Gewalt erzeugt und welche Art von Widerstand sie notwendig macht.« Zu einer solchen Art von Widerstand zählen für sie auch Sub- und Gegenkulturen, die sie unter anderem in ihrem Stück ›Crowd‹, das im September in den Sophiensaelen zu sehen sein wird, untersucht. Konkret erzählt das Stück von der Technoszene im Berlin der frühen 1990er Jahre, die Vienne damals auch selbst aktiv miterlebte. Es geht um Nähe und Zurückweisung, um Sex und Ekstase, um Sehnsucht, Einsamkeit, Rausch und Ernüchterung.  

Im Fokus von ›Jerk‹, einem Einpersonenpuppenspiel, das bereits 2008 Premiere hatte, steht dagegen die Gewalt. Die filmische Übersetzung, die während der Berlin Art Week am 15 SEP mit anschließendem Künstlerinnengespräch in den Sophiensaelen gezeigt wird, erschien 2021. Angelehnt ist die Handlung des Stücks—der Text stammt von Dennis Cooper—an eine wahre Begebenheit, an die Sexualmorde an Jungen und jungen Männern, die der US-amerikanische Serienmörder Dean Corll in den 1970er Jahren mit der Hilfe zweier jugendlicher Komplizen, Elmer Wayne Henley und David Owen Brooks, beging. Eben jener Brooks, gespielt von Jonathan Capdevielle, erzählt in ›Jerk‹ die Geschichte, stellt die Morde mit Puppen nach.

 

»Es geht um Nähe und Zurückweisung, um Sex und Ekstase, um Sehnsucht, Einsamkeit, Rausch und Ernüchterung.«

Jerk‹ schlug bei seiner Uraufführung hohe Wellen—auch für die Art und Weise, wie Vienne das Puppenspiel darin einsetzt. Vienne verweist auf die Geschichte des Guignol, des französischen Kasperle, der erfunden wurde, um soziale und politische Missstände anzuprangern, aber auch auf Künstlerinnen, die in der Moderne mit Puppen arbeiteten, obwohl oder auch gerade, weil diese künstlerische Darstellungsform nicht ernstgenommen wurde. Mit Werken jener Künstlerinnen der Avantgarde und des Dada, die mit ähnlicher Radikalität ihre Ideen verwirklichten, werden Viennes Puppen in der Ausstellung im Georg Kolbe Museum in Dialog gesetzt. Dabei werden beispielsweise Dada-Puppen von Hannah Höch zu sehen sein, Marionetten von Sophie Taeuber-Arp oder Kreationen der frühverstorbenen Münchner Puppenmacherin Hermine Moos, bekannt vor allem für die lebensgroße Puppe Alma Mahlers, die sie für Oskar Kokoschka als Ersatz für die ehemalige Geliebte anfertigte. Ebenso vertreten sind Künstlerinnen, bei denen sich das Puppenhafte in anderen Darstellungsformen spiegelt, in den Posen der fotografischen Selbstporträts Claude Cahuns, den sozialkritischen Gemälden und Illustrationen der tschechischen Künstlerin Milada Marešová oder den exzentrischen Tanzpantomimen Valeska Gerts. »Ich würde heute nicht auf diese Weise arbeiten, hätte es in der modernen Kunst nicht solche Werke gegeben«, sagt Vienne mit Blick auf ihre Vorgängerinnen. Die subversiven Gedanken dieser Künstlerinnen gilt es, lebendig zu halten. Und die Geschichte immer wieder neu zu schreiben. 

 

 

Im Rahmen der Präsentationen in Berlin wird im Herbst eine neue Publikation erscheinen, die der gemeinsamen Arbeit von Gisèle Vienne und Estelle Hanania gewidmet ist. Mit Texten von Anna Gritz und Elsa Dorlin. Herausgegeben vom Haus am Waldsee in Zusammenarbeit mit Spector Books. 180 Seiten, Deutsch/Englisch/Französisch, 152 Farbabbildungen, Hardcover. Vor Ort im Haus am Waldsee und Georg Kolbe Museum: 49 Euro / Im Buchhandel: 78 Euro.

 

 

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