»Ich bin jetzt im Schweigen hinter dem Schweigen«, sagte meine Zwillingsschwester Jutta wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie wog nur noch vierundzwanzig Kilo, erinnerte an ein ikonisches Schreckensbild, das sich tief in die deutsche Seele eingegraben hat und doch gleichzeitig nicht gesehen werden kann oder will. Überhaupt der Tod. Ständig sehen wir ihn, seit es Medien gibt, Fernsehen, das Internet. Durch die sozialen Medien folgt er uns bis in das Wohnzimmer—in bunter Reihenfolge. Zwischen Mode, spirituellen Ratschlägen, Kochrezepten, Gesundheitsanweisungen, springt er uns, geradezu unvermeidlich, ins Gesicht. Überall Tod und Krieg. Und doch bleibt er irgendwie weit entfernt, irgendwie uns nichts angehend. Gut, man solidarisiert sich hier und da und stellt seine Empathie in den sozialen Medien aus.
Dabei steigt ein Gedanke auf: Ich sterbe nie! Dieser Gedanke erhebt sich wie aus dem Nichts: Ich bin unsterblich. Sterben tun nur die anderen.
Und er, der Tod, bleibt ein Tabu—zumindest in unserer westlichen Gesellschaft. Die Sterbenden werden in Krankenhäuser gebracht, der Tod wird hygienisiert, verdrängt—und eigentlich ist man froh, wenn man nach einem kurzen hilflosen Besuch, das Krankenhaus wieder verlassen kann. Oder traurig und machtlos. Dieser heimliche Gedanke: Ich bin unsterblich—ist ja auch nicht falsch. Wenn man ihn geistig versteht. Materiell gesehen, sieht der Tod schrecklich aus. Der Körper verfällt, der gestorbene Mensch sieht plötzlich unerkennbar aus, so ganz anders, fremd. Schon nach einigen Tagen fängt er an zu verwesen. Er wird begraben, verbrannt—Asche zu Asche.
Und der geistige Zugang? Das Dilemma ist: In unserer westlichen Welt gibt es keinen wirklichen, keinen geistigen Zugang zum Sterben, keinen Weg nach Innen. Die Religionen vermögen—außer gelegentlich und im allerbesten Fall—etwas Trost zu spenden, nicht mehr. Den existenziellen Fragen: Wer bin ich wirklich? Wohin gehe ich? Was ist nach dem Tod? können sie nur Glaubenssätze anbieten. Keine inneren Erfahrungen und keinen Weg nach Innen. Wo und wie finden wir Spiritualität?
Dabei steigt ein Gedanke auf: Ich sterbe nie! Dieser Gedanke erhebt sich wie aus dem Nichts: Ich bin unsterblich. Sterben tun nur die anderen.
Jutta starb zu Hause, selbstbestimmt bis zum Schluss. Drei Monate vor ihrem Tod hatte sie ihr Buch: ›Mein Leben ohne mich‹ (Weissbooks Verlag) fertig geschrieben. Das Buch—ein Comic—war ihre, wie sie es nannte ›Klagemauer‹: ein wütender Schrei, voller Angst und Verzweiflung, doch voller spiritueller Fragen, voller Zweifel und innerer Betrachtungen. Ein wildes Werk nach den Worten von Dylan Thomas: »Do not go gentle into that good night. Rage, rage against the dying of the light.«
Aber dann veränderte sich plötzlich etwas. Jutta verlor ihre Angst.
Zu dem Zeitpunkt war ich in Kalifornien. Wir chatteten jeden Tag, telefonierten. Dann hörte ich einige Tage nichts mehr von ihr. Ich rief ihren Sohn Severin an—und er bestätigte, was ich befürchtete: Ihr ging es zu schlecht. Die Metastasen hatten sich im Genick, in die Wirbelsäule, in fast alle Knochen gefressen. Sie übergab sich alle paar Stunden. Sofort rief ich sie an und sagte: »Ich fliege morgen zu dir, buche sofort den Flug.« Sie aber sagte: »Sterben kann ich allein, du musst nicht kommen. Auf den letzten zehn Metern der Zielgerade hab ich mich von dir getrennt. Komm nicht als mein Zwilling, aus unseren alten Mustern heraus und gefühlten Verpflichtungen. Ich bin jetzt frei davon. Wenn du aber meinen Sterbeprozess wichtig für deine Entwicklung siehst—ganz für dich—dann würde ich mich freuen, wenn du kommst. Überleg es dir in Ruhe.“
Ich flog am nächsten Tag. Ihre Antwort erschütterte und beruhigte mich gleichzeitig. Sie war frei von unserer Bindung. Ich war noch nicht so weit, aber ich spürte, dass sie mich verlassen hatte. Sie ging jetzt ihren Weg. Bewusst auf den Tod zu. In das ganz große Mysterium.
Die meiste Zeit meditierte sie. Rainer (Langhans) begleitete sie geistig, sprach anfänglich noch viel mit ihr—aber später lag er ganz still neben ihr und meditierte gemeinsam mit ihr. Alle Wut und Verzweiflung war von Jutta gewichen. Sie sah schön und jung und transparent aus. Wog nur noch fünfundzwanzig Kilo. Sie sagte manchmal: »Der Teufel hat an mir nichts zu nagen.«
Einmal, als ihr Sohn und ich, nachdem wir sie gewaschen hatten, noch irgendwie linkisch und plötzlich schüchtern an ihrem Bett standen, sagte ich: »Für dich ist das alles bestimmt ein Theater, was wir hier machen?» Sie lächelte uns zärtlich und etwas spöttisch an: »Ja, aber ein liebevolles Theater.«
Nachdem sie ihre Angst verloren hatte, sagte sie: »Die ganze Zeit habe ich so Angst gehabt. Ich wusste, ich kann nicht sterben. Es war, als müsste ich über einen schwarzen Fluss springen und wusste, ich würde untergehen und er würde mich verschlingen. Ich konnte nicht! Ich kann nicht sterben! Aber jetzt bin ich gesprungen und als ich mich umdrehte sah ich keinen Fluss, es gab ihn gar nicht. Ich stand in einer friedlichen Landschaft.«
Sie entschied sich, nichts mehr zu essen, radikal zu fasten und sagte: »Ich setze jetzt alles auf eine Karte: Entweder stirbt der Krebs oder ich.« Der Arzt sagte, dass sie ohne Nahrung in ihrem Zustand noch höchstens zwei Wochen leben würde. Sie lebte noch drei Monate. Während dieser Zeit fotografierte ich sie jeden Tag mit meinem iPhone. Ich hatte sie schon die ganzen Jahre zuvor während der fortschreitenden Krankheit fotografiert, über tausend Fotos. Jetzt aber war es vielleicht auch ein Weg, ihr Sterben zu bewältigen und der Angst ins Auge zu blicken. Oft sah ich sie als überirdisch schön und wollte das festhalten. Viel sprachen wir nicht mehr, meistens schickte sie uns aus dem Zimmer, wollte allein sein, sagte: »Ich muss noch tiefer nach innen gehen.« Manchmal redete sie lange, wir konnten sie nicht verstehen. Mir war klar, sie ist ganz woanders. In ihrer Welt, wo immer sie auch war, war sie vollständig bewusst, nicht verwirrt, aber in keinem Bezug mehr zu unserer Welt.
Sie hatte sich irgendwann fragend überlegt, ob es richtig gewesen war, ihr Buch so wütend und voller Angst herausgegeben zu haben. Nachdenklich sagte sie, sie wolle noch ein anderes Buch schreiben—eins, das den Leuten helfen würde, weniger Angst zu haben. »Das müsst ihr dann tun. Ich habe nicht mehr die Kraft dafür.« Aber der Grund dafür war, dass innere Erfahrungen jenseits der Sprache sind und nicht wirklich vermittelbar. Selbst Heilige sprechen in Gleichnissen.
Ich, ein Kind der Aufklärung, ein Adept des Zweifels, hadernd mit meinen inneren Widersprüchen, gehe schon seitdem das Fenster von ’68 wieder zuging einen spirituellen Weg mit Rainer Langhans und drei anderen Frauen, auf dem ich mich immer wieder frage: Bin ich verrückt geworden? Gott ist doch tot.
Jutta war Rainer zuerst begegnet, der ihr eine Perspektive bot, nachdem wir alle nach einem Weg suchten, wie es weitergehen könne—nachdem die Revolution von ’68, die große Ekstase, gescheitert war. Unsere ganze Generation suchte nach einem Weg, manche, wie die RAF, gingen den Weg der Gewalt—mit Waffen, Mord und Verzweiflung. Manche zog es nach Indien zu Osho. Manche starben. Wir beweinten den Tod von Jimi Hendrix und Janis Joplin und Jim Morrison und ahnten irgendwie: Zurück in das alte Leben können wir nicht mehr. Wenn man schon einmal in einer anderen, liebevolleren Welt war, kann man nicht mehr zurück in die alte, bürgerliche Welt mit ihrer ganzen alltäglichen Gewalt. Und Rainer sagte: »Jetzt geht der Weg nach Innen. Das, was wir ’68 in einem Moment in der Geschichte—in diesem historischen Moment—gelebt und gesehen hatten, nämlich dass die Wirklichkeit Liebe ist, das müssen wir jetzt in uns selbst finden. Der Revolutionär muss sich selbst revolutionieren.«
Ich und anfänglich noch drei andere Frauen stießen mit der Zeit zu Rainer und Jutta. Später nannten die Medien uns Harem, aber wir sind die Fortsetzung der Kommune: Eine geistige Kommune und Liebesgemeinschaft, die sich—obwohl wir alle sehr unterschiedlich sind—auf dem selben Weg befindet. Keine von uns, ich jedenfalls ganz bestimmt nicht, ahnte, dass es so ein langer und auch harter Weg werden würde. Ein Weg des Sterbenlernens um zu leben und in die Liebe zu kommen. Meditation (bleibt auch nach Jahrzehnten Blackbox), Loslassen, die eigenen engen Muster überwinden. Ein langer Weg des Scheiterns, des Vorwärtsstolperns. Und doch nicht umsonst, obwohl es mir manchmal so vorkommt.
Und doch ist dieses Nichtwahrnehmbare, dieses Nichts immer präsent. Scheitern ist das Grundprinzip unseres spirituellen Weges—vorwärts scheitern. Auch wenn alles umsonst erscheint: Hinter dem Bewusstsein, hinter der Wahrnehmung geschieht etwas Unsichtbares und Unbeschreibliches.
In 5 hours we will take Jutta’s ashes to the Ganges. I can’t sleep… I every now and then cry… next to me the Ganges, silver and black and still… from the distance singing and drumming, a dog is barking… A strange beauty
Jutta tauchte am Ende—nach einem harten inneren Kampf, nach Angst und Verzweiflung—in das Nichts ein. Und so verstehe ich ihre Mitteilung »Ich bin jetzt im Schweigen hinter dem Schweigen« als ihren Versuch, uns zu sagen: »Ich bin an dem Ort des unbeschreiblichen Schweigens. Ich sage euch später mehr.«
Mit meiner Ausstellung will ich die Schönheit hinter dem Schrecken, das Licht, das von Jutta am Ende ausging, zeigen: Das innere Geschehen, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern der Übergang zum Leben. Und in die Liebe ist das Scheitern schon eingebaut. Man kann das Unsichtbare nicht in Bildern zeigen. Und trotzdem ist es einen Versuch wert.