Powerful Poetics

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Sarah Aviaja Hammeken, ›Soil‹, Performance im Rahmen der Ausstellung ›Pia Arke‹, KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2024. Foto: Ena Kurtagic Granulo

Drei ortsspezifische Performances im Rahmen der Berlin Art Week—Jelena Fužinato’s ›Incoming‹ (Hamburger Bahnhof), Sarah Aviaja Hammeken’s ›Soil‹ und Amina Szecsödy’s ›Mean Time‹ (KW Institute for Contemporary Art)—verhandeln auf poetische Weise Zugehörigkeit, Migration und Machtstrukturen. Die Arbeiten beschäftigen sich, ausgehend von persönlichen Geschichten, mit gesellschaftlicher Kritik und eröffnen neue Perspektiven auf feministische und dekoloniale Diskurse. Welche Impulse für neue Handlungs- und Sichtweisen halten die künstlerischen Ansätze für die Betrachter*innen bereit?

Auf den ersten Blick mag es nach einer gewöhnlichen Baustellensituation aussehen: ein Aluminiumgerüst im Aufbau vor dem Hamburger Bahnhof—Nationalgalerie der Gegenwart, umzäunt von einem Absperrband. Ein genaueres Hinsehen eröffnet den Blick auf eine vielschichtige Performance-Arbeit der Künstlerin Jelena Fužinato, die in Zusammenarbeit mit Emily Finkelstein, der Assistenzkuratorin des zeitgenössischen Kunsthauses, und Catalina Heroven, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Berlin, entstanden ist. Die vierstündige Performance ›Incoming‹ (15 SEP 2024, 12—16 Uhr, Hamburger Bahnhof—Nationalgalerie der Gegenwart) ist Teil der Interventionsreihe ›Zoom Out: Zeitgenössische Perspektiven an der Schwelle zum Museum‹, für die Künstler*innen in ortsspezifischen Interventionen Fragen nach Zugehörigkeit und Ausgrenzung zwischen Museum und der Stadtgesellschaft aufwerfen.

In ihrem Beitrag zur Reihe lenkt Fužinato den Blick auf das Unscheinbare, auf das, was von der Mehrheitsgesellschaft oft nicht wahrgenommen wird, und formuliert dadurch eine poetisch-subtile Gesellschaftskritik. Die Arbeiter*innen, die das Gerüst als Teil der Performance aufbauen, sind als Künstler*innen aus dem Balkan nach Deutschland gekommen, wurden aber durch die elitären Strukturen des hiesigen Kunstbetriebs primär als Ausländer*innen wahrgenommen und in Wirtschaftszweige wie das Bauwesen oder den Pflegesektor gedrängt. Damit knüpft Fužinato, die selbst in Jugoslawien geboren, in Bosnien aufgewachsen und heute in Berlin lebend ist, an ihre Familiengeschichte an, die ebendiese Ambivalenzen widerspiegelt: die vermeintlichen Privilegien, zerrüttete Heimatgebiete für das Versprechen von besserer Bezahlung als Gastarbeiter*innen verlassen zu können, und zeitgleich die gelebte Prekarität, Unzugänglichkeiten und die legalen Grauzonen, an die ihre Aufenthalte zwischen Deutschland, Österreich und dem Balkan geknüpft sind.

In Ihrem Beitrag zur Reihe lenkt Jelena Fužinato den Blick auf das Unscheinbare, auf das, was von der Mehrheitsgesellschaft oft nicht wahrgenommen wird, und formuliert dadurch eine poetisch-subtile Gesellschaftskritik.

Die Performance zwingt die Besucher*innen zu einem Innehalten und einem Betrachten dieser scheinbar alltäglichen Prozesse des Gerüstaufbaus; körperliche Arbeit, die immer in Verschränkung mit Geschlecht und (sozialer) Herkunft gelesen werden muss. Was bedeutet es nun, dass diese Fragestellungen in einem Kunstkontext verhandelt werden, der ebenfalls von Ausschlussmechanismen durchkreuzt wird? Ihrem gastarbeitenden Großvater wurde in den 1970er Jahren ans Herz gelegt, 20 deutsche Wörter zu lernen, die ihm Zugänge und Vorteile in der Arbeitswelt ermöglichen sollten. Als Teil der Performance umspannt den Baubetrieb nun ein Absperrband, das die Künstlerin mit 20 englischen Wörtern versehen hat, welche ihr wiederrum Zugang zum globalen Kunstgeschehen ermöglichen—als poetische und zugleich selbst-ironische Hommage an ihren Großvater. Darauf zu lesen sind Schlagwörter wie »Networking«, »Funding«, »Sponsorship«. Die Künstlerin schlägt so Brücken zwischen gesellschaftlichen Unzugänglichkeiten und denen des Kunstbetriebs. Fužinato nutzt das Gerüst, um in das Innere des prestigeträchtigen Kunsthauses einzudringen und dabei den Fragen nachzuspüren, welche Widerstandsfähigkeit, welche körperlichen Bedingungen, welche Codes nötig sind, um die Kunstwelt zugänglich zu machen—insbesondere als Künstlerin mit Migrationsgeschichte.

In das Gebäude gelangt, lädt die Künstlerin die zwei Künstler*innen-cum-Arbeiter*innen zu einem Artist Talk ein, der im Garderobenraum des östlichen Flügels der Institution stattfindet. Auch hier geht es um Umdeutungen und Aufwertungen von vernachlässigten Räumen und Arbeitsformen, die selten im Rampenlicht der Kunstwelt erscheinen. Im Raum befinden sich ebenfalls unscheinbare Readymades, die der Migrationsgeschichte der Familie der Künstlerin entsprungen sind. Darunter befindet sich beispielsweise eine Reisetasche mit einer Auswahl von essenziellen und persönlichen Gegenständen. In der Kindheit der Künstlerin stand stets eine solche Tasche für die potenzielle Flucht bereit. Die aktuellen politischen Umstände mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Deutschland haben die Künstlerin dazu gebracht, wieder solch eine Tasche für sich und ihre Kinder anzulegen.  

 

›Incoming‹ ist eine Einladung, genauer hinzuschauen, verschiedene Arbeitsformen, die sowohl Gesellschaft als auch den Kunstbetrieb aufrechterhalten, neu zu bewerten, eigene Privilegien zu hinterfragen, als Institution Barrieren aktiv abzubauen und neue Wege des institutionellen Zugangs zu schaffen.

 

Fužinatos Arbeit erinnert an die feministisch-künstlerische Tradition der 1960er und 1970er Jahre, wie etwa an Mierle Laderman Ukeles‘ ›Maintenance Art‹-Serie, die alltägliche private Sorgearbeit und öffentliche Wartungsarbeiten als Kunst positionierte und diese als gesellschaftlich relevante Tätigkeiten aufwertete. Doch Fužinato betont, dass sie stets vom Persönlichen ausgehend arbeite und nicht von theoretischen Referenzpunkten. Ein Ansatz, der sich vielleicht auch als auto-ethnografisch beschreiben lässt. Das Besondere an dieser Form des Arbeitens ist, dass das Persönliche—gemäß dem feministischen Slogan—immer ein politisches Potenzial in sich trägt. Denn die von ihr aufgegriffenen Erfahrungen sind niemals singulär, sondern immer auch Verweise auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und strukturelle Ausschlussmechanismen. ›Incoming‹ ist also eine Einladung, genauer hinzuschauen, verschiedene Arbeitsformen, die sowohl Gesellschaft als auch den Kunstbetrieb aufrechterhalten, neu zu bewerten, eigene Privilegien zu hinterfragen, als Institution Barrieren aktiv abzubauen und neue Wege des institutionellen Zugangs zu schaffen.

Sarah Aviaja Hammeken. Foto: Amalie Ivalo Hammeken

Das ambivalente und zugleich poetische Verhandeln von Machtstrukturen, Kolonialgeschichte, Migration und Geschlecht ist ebenfalls in zwei Performances präsent, die im Rahmen der Berlin Art Week im KW Institute for Contemporary Art stattfinden. Die Tanzperformance ›Soil‹ von Sarah Aviaja Hammeken am 14 SEP (14 + 18 Uhr) setzt, ähnlich wie Jelena Fužinato, bei den persönlichen Erfahrungen der Künstlerin an. Die in Kopenhagen geborene Choreografin und Tänzerin mit dänischen und grönländischen Wurzeln verhandelt in ihren Performances das Spannungsverhältnis zwischen ›the coloniser and the colonised‹—zwei scheinbare Gegensätze, die sich in ihrer Familiengeschichte kreuzen. Die Künstlerin, die sonst stark kollaborativ arbeitet, tritt mit ›Soil‹ in den KW zum ersten Mal in einer Soloperformance auf. Ihre Arbeiten sind dafür bekannt, auf nonverbale, poetische Weise das Uneindeutige, Vage und Unüberschaubare globaler Machtverhältnisse, kultureller Zugehörigkeiten und indigener Kulturen in eine Körpersprache zu verlagern—und als solche für das Publikum erfahrbar zu machen. In der 40-minütigen Performance bewegt sich Hammekens Körper im menschengefüllten Raum und tritt mit einer Installation aus Erde in Interaktion.  

›Soil‹ ist Teil des Rahmenprogramms der Retrospektive ›Arctic Hysteria‹ von Pia Arke, die bis zum 20 OKT 2024 in den KW zu sehen ist. Zwei künstlerische Ansätze, die viele Überschneidungen mit sich bringen: Die Künstlerin, Ethnografin und Forscherin Pia Arke (1958–2007)—selbst Tochter einer grönländischen Inuk-Mutter und eines dänischen Vaters—gilt als wegbereitende feministische Stimme im nordischen und arktischen dekolonialen Diskurs und als zentraler Referenzpunkt für Hammekens zeitgenössiche Praxis. Seit den 1980er Jahren und bis zu Jahrtausendwende widmete sich Pia Arke dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Erinnerung, Raum, Identität und Mythos in Bildern von und aus Kalaallit Nunaat (Grönland). Ihr zentrales Medium war die Fotografie, welches historisch gesehen das Werkzeug der Kolonialherren war. Sie eignete sich das fotografische Medium an und schrieb sich und ihren oft nackten, weiblichen Körper in einer selbstbestimmten, wenn auch fragil-poetischen Ästhetik in die Landschaften ihrer Kindheit ein.  

Pia Arke, ›Selvportræt (Selbstportrait)‹, Fotografie, 1992. Courtesy Pia Arke Estate. Privatsammlung © Pia Arke Estate

Dadurch beleuchtet Arke ihre persönlichen Erinnerungen im Zusammenspiel mit größeren geopolitischen Fragen zu Machtverhältnissen, Geschlecht und Kolonialismus. Im Katalog zur Ausstellung sind ihre Worte zu finden: »In meinen Arbeiten habe ich mich darum bemüht, die Relevanz der kleinen Geschichte im Verhältnis zur großen Geschichte zu untersuchen.«1 Wir dürfen also gespannt sein, wie Sarah Aviaja Hammeken die sowohl künstlerischen, feministischen als auch dekolonialen Stränge von Pia Arkes Oeuvre in der Uraufführung von Soil neu verhandelt und auf tänzerische Weise fortschreibt.  

Amina Szecsödy, ›Mean Time‹. Foto: Nemo Hinders

Während Hammeken ohne verbale Sprache auskommt, liegt der Fokus bei der Performance ›Mean Time‹ der multidisziplinären Künstlerin Amina Szecsödy auf dem Wort und der weiblichen Stimme selbst (15 SEP, 14 + 18 Uhr, KW Institute for Contemporary Art). Als Art Orakel inszeniert, erwartet die Besucher*innen eine immersive, 30 bis 45-minütige Performance, bei der Szecsödy Fragmente von Wörtern und Textpassagen, teils stimmverzerrt zu sphärischen Klängen aufsagt und neu zusammensetzt. Die Performerin bezeichnet ihre fragmentarische Methode als Syphoning, als unweigerliches und teils unkontrolliertes Aufsaugen oder Absaugen von Informationen aus dem breiten Pool ihrer historischen Recherchematerialien zu weiblichen Körpern und deren Stimmen; als subversive Ausdrucksformen innerhalb bestehender Machtverhältnisse. Aus den aufgesogenen Elementen entsteht ein Stimmungsbild, das sich zu einer kritischen Gegenwartsbeschreibung zusammenfügt. Von dieser Jetzt-Analyse entspinnen sich die Prophezeiungen der Performerin, welche zwischen dystopischen und utopischen Zukunftsszenarien oszillieren.  

Wie können wir als politische Subjekte sowie als Kunstrezipient*innen und Produzent*innen von der durch Ungleichheiten geprägten Gegenwart lernen und aktive Gestalter*innen der Zukunft werden?

Mit diesem Spannungsverhältnis arbeitet auch der brasilianische Künstler Luiz Roque, dessen Science-Fiction-artigen Video-Arbeiten zu queerer (Bio-)Politik noch bis zum 20 OKT 2024 in der Ausstellung ›Estufa‹ in den KW zu sehen sind. Szecsödy’s Performance ist Teil des Rahmenprogramms zu Roques Mid-Career-Ausstellung, denn beide künstlerischen Ansätze zielen nicht darauf ab, eindeutige Zukunftsszenarien zu entwicklen, sondern genau das Zwischenfeld von Utopie und Dystopie produktiv zu machen und aushalten zu lernen. So mag sich auch bei Szecsödy’s ›Mean Time‹ eher ein Gefühl der Beklommenheit, des Unbehagens, der Ambivalenz breitmachen. Die vielschichtige Lesart ihrer Arbeit wird auch im Titel deutlich: Einerseits kann ›Mean Time‹ als fließende Zeit, als Zwischenzeit, verstanden werden, andererseits als gemeine, fiese Zeit, in der wir uns gegenwärtig befinden und aus der es gilt, Auswege zu finden.

Wie können wir als politische Subjekte sowie als Kunstrezipient*innen und -produzent*innen von der durch Ungleichheiten geprägten Gegenwart lernen und aktive Gestalter*innen der Zukunft werden? Welche Impluse tragen die jeweiligen Performances in sich und welche werden fruchtbar gemacht? So unterschiedlich die Performances auch erscheinen mögen, auf subtil-poetische Weise kratzen sowohl Jelena Fužinato mit ›Incoming‹ im Hamburger Bahnhof—Nationalgalerie der Gegenwart, Sarah Aviaja Hammeken mit ›Soil‹ als auch Amina Szecsödy’s ›Mean Time‹ in den KW an den fragilen Oberflächen unserer Zeit. Sie scheuen nicht davor zurück, die ungemütlichen Facetten unserer Beziehungsgeflechte, Machtverhältnisse, Auschluss- und Zugehörigkeitsmechanismen offenzulegen.

Es ist wichtig, dass zeitgenössische Kunstinstitutionen diesen vielschichtigen Spannungsfeldern Raum geben. Jedoch sind nun wir als Betrachter*innen gefragt, uns von den persönlichen Erzählungen und Ambivalenzen der Performances berühren zu lassen und, davon ausgehend, neue Sicht- und Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart auszuloten.

 

1 Pia Arke in: Ros Carter and Sofie Krogh Christensen, eds. ›Pia Arke‹. Southampton and Berlin: John Hansard Gallery and KW  Institute for Contemporary Art, 2024

 

 

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