Über die Politisierung der Topfpflanze, oder: Was wir von Pflanzen lernen können

von 
Jesse McLean, ›Light Needs‹, 2023 (Videostill). Courtesy: die Künstlerin

Die Künstler*innengruppe Para beschäftigt sich mit spekulativen Zukünften, die bereits vergangen sein werden und eröffnet einen Raum, die Gegenwart aus einer neuen Perspektive zu betrachten. In Performances erkunden sie die Ruinen der Finanzspekulation, hinterfragen soziale Ungleichheit oder ›entführen‹ die Zugspitze ins Museum, um die Rückgabe des Gipfelsteins des Kilimandscharo möglich zu machen, die der Kolonialforscher Hans Meyer 1889 nach Deutschland verschleppt hat. Zur Berlin Art Week eröffnet Para in der nGbK—neue Gesellschaft für bildende Kunst die Gruppenausstellung ›Orangerie der Fürsorge‹. Im Interview mit Carolin Schmidt sprechen Lina Brion und Amelie Neumann von Para über die Grenzen regenerativer Tätigkeiten, die Kolonialgeschichte von Pflanzen und Möglichkeiten der Transformation durch Praktiken der Fürsorge.

Carolin Schmidt (CS): Eure Ausstellung in der nGbK trägt den Titel ›Orangerie der Fürsorge‹—wie kann ich mir diese Orangerie vorstellen? Und was unterscheidet sie von anderen Orangerien?

Lina Brion (LB): Botanische Gärten, Orangerien und Gewächshäuser wurden gebaut, um Pflanzen auszustellenzu Bildungszwecken, zu Forschungszwecken, aber auch aus Prestigegründen. Diese Pflanzen prägen bis heute unsere Bildwelt. Tropische Pflanzen werden als exotisch wahrgenommen. Sie erzählen von ›fernen Welten‹ und in einem botanischen Garten tauchen Besucher*innen in diese ein. Im Gegensatz dazu erzählt die ›Orangerie der Fürsorge‹ von Para von bereits domestizierten Pflanzen; von den Haushalten, den Büros, den Lebensräumen, die sie vorher hatten. Das kann die Geschichte vom Baumarkt sein, in dem sie verkauft wurden oder vom Gewächshaus in Holland, in dem sie hochgezüchtet wurden. Wir erzählen nicht von exotischen Pflanzen, sondern von Räumen, die durch Care-Praktiken belebt werden.

CS: Was für einen Ansatz verfolgt Para und wie habt ihr euch dem Thema Fürsorge genähert? 

LB: Wir denken über die Gegenwart als etwas nach, das die Vergangenheit einer späteren Zukunft ist, bewegen uns also im Modus des ›Es wird gewesen sein‹. Spekulativ betrachten wir so verschiedene Phänomene der Globalisierung. Dieses Projekt begann mit der Idee für einen Raum voller ausrangierter Zimmerpflanzen, um die sich niemand mehr kümmert. Das kuratorische Konzept hat sich davon ausgehend entwickelt. Über die Auseinandersetzung mit Gewächshäusern, botanischen Gärten und Orangerien sollte dann die historische Dimension adressiert werden. Der Schnittpunkte von botanischen Gärten und ihrer Kolonialgeschichte sowie dem ganzen Topos von Fürsorge ist die Topfpflanze, mit der wir zusammenleben. Pflanzen stehen ja immer noch für die Natur, sind aber eigentlich der Inbegriff von Kultur.

Amelie Neumann (AN): Mich interessieren vor allem soziale Praktiken und Fragen, die sich hier auftun: Wie gehen wir miteinander um? Ab wann wird etwas pflegebedürftig? Wie werden Herkünfte überschrieben? Warum funktioniert das Sich-Kümmern mit den Pflanzen so viel besser als mit unseren Mitmenschen?  

 

»Für mich ist zentral, Caretakerin für künstlerische Arbeiten zu sein.«—Amelie Neuman

CS: Welche Rolle spielt das Thema Fürsorge allgemein innerhalb eurer kuratorischen Praxis?

AN: Für mich ist zentral, Caretakerin für künstlerische Arbeiten zu sein. Das bedeutet, die Positionen so zu wählen, dass ein Erfahrungsraum entsteht, der auf einem System gegenseitiger Unterstützung basiert und zu mehr Sichtbarkeit führt—auch bei den Künstler*innen untereinander. 

LB: Ja, die Zusammenarbeit mit den Künstler*innen ist uns generell wichtig. Ich möchte mit ihnen möglichst in einer wirklichen Beziehung stehen, damit nicht das Gefühl entsteht, nur ausgewählt und ausgestellt zu werden, so wie in der Orangerie Pflanzen gesammelt und ausgestellt wurden. 

 

 

CS: Ist das mit allen Künstler*innen möglich? 

LB: Natürlich gibt es beispielsweise Arbeiten von Filmemacher*innen, bei denen wir nur mit der Agentur zu tun haben, die den Verleih macht. Aber es gibt auch Künstlerinnen, mit denen wir lange Gespräche führen und gemeinsam etwas entwickeln. Bethan Hughes macht eine Auftragsarbeit für die Ausstellung. Sie beschäftigt sich schon seit langem mit dem Material Naturkautschuk, mit seiner historischen und der wirtschaftlich-industriellen Dimension. Hier setzt sie sich allerdings mit ihrem Gummibaum auseinander, der eingegangen ist, als ihr erstes Kind geboren wurde. Der Titel der Arbeit heißt ›Limits of Care‹. 

CS: Wie wichtig sind Fragen der Kapazität generell für die Auseinandersetzung mit dem Thema Fürsorge? 

LB: Wir zeigen einige Arbeiten, die sich mit den Grenzen fürsorglicher, reproduktiver und regenerativer Kapazitäten auseinandersetzen oder damit, was es heißt, Verantwortung für andere Lebewesen zu tragen. Da lässt sich eine Parallele zur Natur ziehen, die ebenfalls keine unendliche Ressource ist. Auch die Künstlerin Sophie Utikal beschäftigt sich mit ihrer Schwangerschaft, mit dem Verhältnis zu ihrem Embryo, mit der Entfremdung des eigenen Körpers. Solche Arbeiten lassen uns auch immer wieder unsere eigene Arbeitsweise reflektierenwir merken, dass auch wir immer wieder an die Grenzen unserer Kapazitäten stoßen, was die Fürsorge untereinander betrifft.

 

»Uns geht es darum, die Pflanzen lebendig zu halten, und das bedeutet, sie zu verändern oder Veränderungen möglich zu machen.«—Lina Brion

 

CS: Care ist gerade ein sehr präsentes Thema in der zeitgenössischen Kunst. 

LB: Ja, gleichzeitig wird es häufig nur positiv und nicht in seiner Komplexität betrachtet. Im Klappentext von ›Matters of Care‹ von Maria Puig de la Bellacasa heißt es treffend: »Care, is it a burden or is it a joy?« Wir wollen es als ambivalentes Thema auffächern. Welche Rolle kann Care innerhalb von Produktionsstrukturen spielen? Welche Prozesse sind gut, von welchen wollen wir uns lösen? Wie können wir nachhaltig arbeiten? Diese Fragen beschäftigen uns auch in der Para-Aktivierung innerhalb der Ausstellung.

CS: Wie wird das konkret aussehen? 

AN: Es wird eine Annahmestelle für Pflanzen geben. Menschen können ihre ausrangierten Zimmerpflanzen bei uns abgeben und wir kümmern uns um sie und versuchen, neue Partner*innen für die Pflanzen zu finden. Uns interessiert, wie dieser Austausch funktioniert, welche sozialen Strukturen gegeben sein müssen, um sich von etwas trennen zu können und etwas Neues zu beginnen. 

LB:  Eine andere Künstlerin von Para, Vanessa Amoah Opoku, hat in der Konzeption immer wieder hinterfragt, dass es in botanischen Gärten genauso wie in Museen darum geht, die Pflanzen oder Exponate in ihrer ursprünglichen Form zu erhalten und zu konservierenes sind Kontrollräume. Uns geht es darum, die Pflanzen lebendig zu halten, und das bedeutet, sie zu verändern oder Veränderungen möglich zu machen. Dazu gehört auch die Weiterverbreitung der Pflanzen.  

CS: In welcher Form? 

AN: Wir ziehen Pflanzenableger und die Mutterpflanzen werden digitalisiert und bekommen so ein zweites Leben. Es geht also nicht nur um die Erhaltung, sondern auch um die produktive Nutzung. 

CS: Wie sieht dieses digitale, zweite Leben aus? 

AN: Die Geschichten der Pflanzen werden dokumentiert. In Hamburg, Berlin und Leipzig wurden schon seit Beginn des Projektes Pflanzen eingesammelt und ihre jeweiligen Geschichten festgehalten. Zum Beispiel haben wir Pflanzen aus einem ehemaligen Großraumbüro übernommen—das sind die Pflanzen, die hier im Büro der nGbK stehen. 

CS: Wie kam es dazu? 

LB: Ein Unternehmen hat komplett auf Homeoffice umgestellt und sein Büro massiv verkleinert. Für die Pflanzen, die dort 20 Jahre lang standen, war kein Platz mehr.  

AN: Dadurch stellen sich Fragen: Was rangiert man zuerst aus? Was zuletzt? Und was passiert mit den Dingen, die niemand haben möchte? Wissen die Menschen überhaupt, um welche Pflanzen es sich handelt? Wo kommen diese Pflanzen her, jenseits des Baumarktes? Diese Geschichten und Identitäten der Pflanzen können Besucher*innen im digitalen Raum erfahren.

 

»Reproduktive Arbeit oder Fürsorge ist keine Tätigkeit, die man so leicht niederlegen kann. Man kann nicht nicht Sorge tragen.«—Lina Brion

CS: Das Thema Fürsorge wurde von der Schwarzen Frauenbewegung in den USA der 1960-er Jahre als politisches Thema gesetzt. Was können dekoloniale, feministische und widerständige Perspektiven auf Fragen von Fürsorge bewirken?  

LB: Die Ausstellung operiert mit keinem festgelegten Fürsorge-Begriff, sondern stößt eher Fragen darüber an, was sorgende, lebenserhaltende Praxen alles umfassen können. Was bedeutet es, Fürsorge als Verantwortung zu begreifen? Inwiefern gehört die Beschäftigung mit der historischen Gewalt dazu? Was sind gute Lebensbedingungen? Das sind alles politische Fragen, die vor allem von aktivistischen, häufig marginalisierten Personen ins Rollen gebracht wurden. Meine Perspektive auf den Sorge-Begriff ist vor allem durch den marxistischen Feminismus, u.a. vertreten durch die Philosophin und Aktivistin Silvia Federici beeinflusst: Die Debatte über ›Wages for Housework‹ in den 1970erJahren hat herausgestellt, dass die sogenannte Hausarbeit das ist, was Lebensfähigkeit herstellt, und das ist selbstverständlich auch Arbeit. Sie macht den Gedanken auf, was passieren würde, wenn alle Sorgetragenden streiken würden. Denn wenn diejenigen, die zu Hause bleiben, damit die andere Person zur Arbeit gehen kann, nicht weiterarbeiten würden, könnte die andere Person nicht mehr zur Arbeit gehen. Gleichzeitig ist reproduktive Arbeit oder Fürsorge keine Tätigkeit, die man so leicht niederlegen kann. Man kann nicht nicht Sorge tragen.  

AN: Das Widerständige schwingt in der Ausstellung vor allem durch die Frage der Zeitlichkeit von Care mit. Welche Geschwindigkeiten hat unsere Gegenwart? Wir brauchen eine neue Zeitlichkeit, die nicht um Konsum kreist. Außerdem wird Anguezomo Mba Bikoro, Berliner Künstler*in und Kurator*in, mit einer Intervention und Lecture Performance im Begleitprogramm ausgehend von der eigenen Beschäftigung mit Pflanzen eine dekoloniale, Schwarze feminitische Perspektive auf Health-Care und das Verhältnis von Sorge und Ökologie stark machen.

 

 

CS: Werden Arbeiten zu sehen sein, die diese Aspekte aufgreifen? 

AN: Die Künstlerin Dunja Krcek orientiert sich in ihren Bildern an den Bewegungen von Pflanzen. Oft sagen wir, Pflanzen vegetieren dahin. Aber wenn wir uns die Zeit nehmen, können wir die Bewegung von Pflanzen wahrnehmendafür braucht es eine Verlangsamung. Das hat auch eine politische Dimension. Die Installation von Samir Laghouati-Rashwan beschäftigt sich explizit mit der Kolonialgeschichte der Botanik. Die Benennung durch weiße Kolonisator*innen und Wissenschaftler*innen ist oft willkürlich geschehen und bezieht die Menschen, die seit Jahrhunderten mit diesen Pflanzen leben und interagieren, nicht mit ein. In deren Benennung steckt etwa die Information, ob es sich um eine Heilpflanze handelt oder gegen welche Krankheit sie hilft. Die Pflanze, aus der Chinin hergestellt wird, was in Tonic Water enthalten ist, ist beispielsweise eigentlich eine Heilpflanze.  

LB: Die Videoarbeit von Rob Crosse zeigt eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die in einem Wald unterwegs sind und Dendrochronologie betreibendie Wissenschaft der Altersbestimmung von Bäumen. Dabei wird auch die Gesundheits- und Krankheitsgeschichte eines Baumes offengelegt und man kann ableiten, welche Bedingungen herrschen müssen, damit die Gesundheit des Baumes gesichert ist. Gleichzeitig geht es auch um die Kommunikation der Pflanzen untereinander und deren Netzwerke gegenseitiger Unterstützung. Diese Beobachtung wird parallel geschaltet mit Interviews von Menschen eines queeren, intergenerationalen Wohnprojektes in Berlin, die darüber sprechen, wie sie alt werden möchten und welche Unterstützungssysteme hier bestehen. 

 

»Viele Menschen haben kein Bewusstsein dafür, welche Pflanzen sie umgeben und wie ihre Geschichten sind.«—Amelie Neumann 

 

CS: Bei der Präsentation von kolonialer Raubkunst in Museen sind die Besitzansprüche und der Machtmissbrauch klarbei der Präsenz von Pflanzen schwingt vor allem das koloniale Unbewusste mit. Hat dieses Wissen euren Umgang mit euren eigenen Pflanzen verändert? Und braucht es eine Dekolonisierung unserer Wohnzimmer?  

LB: Ich nehme meine Pflanzen jetzt ein bisschen ernster.  

AN: Ich nehme die urbane Perspektive anders wahr. Kürzlich bin ich durch die älteren Viertel von Frankfurt am Main geschlendertdort gibt es ganze Straßenzüge, die von riesigen Palmen und verschiedenfarbigen Magnolienbäumen gesäumt sind. Erst dachte ich, ja, das passt gut zu Frankfurt als Ort, an dem Menschen aus aller Welt leben und jede*r etwas mitbringtaber dann ist mir bewusst geworden, dass diese Pflanzen schon lange hier stehen müssen, um so groß zu sein. Viele Menschen haben kein Bewusstsein dafür, welche Pflanzen sie umgeben und wie ihre Geschichten sind. Dazu passt auch die Arbeit von Julia Löffler, ›Plant Hunters‹. Löffler vergleicht darin Fotografien aus dem 19. Jahrhundert, auf denen Menschen zu sehen sind, die sich in einem Gestus der Kolonialherr*innen inmitten von tropischen Pflanzen selbst inszenieren mit Fotografien von ›Plantfluencer*innen‹ auf Instagram. Hier gibt es große Ähnlichkeiten und man merkt das Unbewusste, das sich fortsetzt.  

CS: Gibt es eine Literatur, die für euch besonders wichtig war im Kontext der Ausstellung?  

LB: Ich habe parallel zur Ausstellungskonzeption in ›Matters of Care: Speculative Ethics in More than Human Worlds‹ von Maria Puig de la Bellacasa gelesen. Sie bezieht sich auf einen Begriff von ›Care‹, der alle Tätigkeiten, die irgendwie damit zu tun haben, etwas am Leben zu erhalten, umfasst. Auch ›The Coloniality of Planting‹ von Shela Sheik und Ros Gray war wichtig für unsere Arbeit. Daraus haben wir die Frage mitgenommen, ob aus dem Umdenken der Beziehungen zu den Pflanzen auch ein Umlernen für die Beziehungen zwischen den Menschen entstehen kann.  

CS: Wie sieht die Zukunft der Fürsorge für euch aus? Und wo gibt es in unserem Alltag das Potenzial, Fürsorge anders zu denken und neu zu organisieren?  

AN: Es gibt ein Interesse daran, dass Care-Arbeit nicht mehr an Herkunftsfamilien gebunden ist, sondern dass es einen sozialen Verteilungsmechanismus gibt. Jede Person kann Fürsorge tragen: für sich, für andere, für die Umwelt. Das würde auch sichtbar machen, was Care-Arbeit eigentlich bedeutet. 

LB: Damit Ökosysteme erhalten bleiben können, braucht es regenerative Praxen. Das kann Haushaltsarbeit sein, das Kümmern um andere Menschen und Lebewesen. Deshalb muss eine Gesellschaft sich ausgehend von Prinzipien der Lebenserhaltung und Regenration organisieren. 

CS: Gibt es eine Pflanze, die ihr besonders mögt?  

AN: Ich mag den Schwiegermuttersitz. Das ist so ein schöner, runder Kaktus—er ist unantastbar und unveränderlich. Gleichzeitig ist es eine sehr gut angepasste Pflanze, die mit wenig Zuwendung und wenig Wasser auskommtwas uns vielleicht auch bevorsteht.  

LB: Ich habe erst in meiner aktuellen Wohnung angefangen, ein paar Pflanzen zu haben. Eine macht mir besonders viel Freude und das ist die Allerkleinste: ein mallorquinischer Wüstenkohl. Die habe ich als Ableger von zwei anderen von Para bekommen. Sie sieht so freudig aus und ich mag, wie sie ganz langsam und klein vor sich hin sprießt.  

CS: Herzlichen Dank für das Gespräch. 

 

 

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