Von Cyborg-ähnlichen Figuren, queeren Performances, Pollen-Landkarten und Kommerz

von 
The Fairest, Kühlhaus, Foto: Bastian Thiery

Unsere Autorin Sophie Jung nimmt vier der zwölf Sonderprojekte, die im Rahmen der neuen BAW Featured Sektion der 12. Ausgabe der Berlin Art Week präsentiert werden, in den Blick. Eine Erkundung ungleicher Orte, die alle auf ihre Weise den Blick für zeitgenössische Kunst öffnen

Vorne Po, hinten Po, und ästhetisch irgendwo zwischen Archaik und Cyborg: Für ihre kopflosen, lackglänzenden Figuren fusioniert die junge Bildhauerin Sally von Rosen Körperöffnungen und Extremitäten, die ins Absurde entgleiten. Gut 50 ihrer skurrilen Vierbeiner werden während der Berlin Art Week in der Trauma Bar und Kino zu einer raumhohen Pyramide ineinandergestapelt zu sehen sein. Trauma Bar und Kino ist nicht nur ein Club, sondern auch ein Ort für Sound, Performance und Bildende Kunst. Dort, nahe dem Hauptbahnhof, in der sogenannten Europacity, wo neu entstehende Apartmentblocks und manch gläserner Büroturm die Stadt durchtakten, ist das privat betriebene Kunstzentrum in einer alten Logistikhalle zu finden—außergewöhnlich experimentell und undefiniert.

 

 

Die Sektion BAW Featured macht deutlich, welche Orte für die Kunst relevant sind, wenn die Stadt dichter, teurer und zunehmend durchdekliniert wird.

Sally von Rosens Körperpyramide ist eines von zwölf Projekten der Sektion BAW Featured. Die neue Sparte der Berlin Art Week fasst Sonderprojekte abseits von herkömmlichen Ausstellungen in Museen und Galerien zusammen—jene freien Initiativen, die zwischen nomadischem Solokonzert und großer Gruppenausstellung in einem ehemaligen Kraftwerk variieren können. Sie vermitteln eine »Bandbreite an künstlerischem Austausch, Ausstellungen und Erkundungen, für die Berlin so bekannt ist«, schreiben Krist Gruijthuijsen (Direktor der KW Institute for Contemporary Art), Catherine Nichols (Kuratorin am Hamburger Bahnhof—Nationalgalerie der Gegenwart), María Inés Plaza Lazo (Gründerin und Verlegerin von Arts of the Working Class) und Mona Stehle (Programmleitung der Berlin Art Week). Sie haben als Selection Committee für die zweite Ausgabe von BAW Featured zwölf Projekte aus insgesamt 90 Einreichungen ausgewählt. Diese zeigen die »Herausforderung für die Stadt , sich als Spiegel einer kulturell fortschrittlichen und liberalen Gesellschaft zu behaupten«, heißt es im Statement. Und die Sektion BAW Featured macht deutlich, welche Orte für die Kunst relevant sind, wenn die Stadt dichter, teurer und zunehmend durchdekliniert wird.

 

Sally von Rosen, Foto: Rebecca Eskilsson

Da ist Between Bridges, der Kunstraum, den man häufig mit dem Namen seines Gründers Wolfgang Tillmans verbindet. Architektonisch ist er ein Understatement. Erst im vergangenen Jahr wurde das Wohn- und Ateliergebäude von Between Bridges mit seinem grauen Putz und grünen Fensterelementen am Ende der Adalbertstraße, ganz nah am umkämpften Wagenplatz Köpi, fertiggestellt. Umso überraschender, was sich hinter seinen Türen verbirgt. Während der Berlin Art Week werden die fragilen Szenarien von Ioana Nemeş zu sehen sein. Ihre konzeptuellen Objekte und Installationen befinden sich an der Grenze zwischen Kunst und Leben. Zeichen, Sprache und Erzählungen nutzte die rumänische Künstlerin als stete Mittel der Selbsteinschätzung. Ihr Projekt ›Monthly Evaluations‹ (2005—2010) etwa erinnert nur auf den ersten Blick an On Kawaras berühmte ›Today‹-Serie. Doch anstatt wie On Kawara jeden Tag das aktuelle Datum technisch perfekt auf Leinwand festzuhalten, legte Nemeş ein auf Infotafeln reproduziertes Archiv von Zeit und Ort mit nachdenklich-eigensinnigen Notizen an. Am Donnerstag, den 10 AUG 2006, schrieb sie: »Dreams do dream us, don’t they?« (»Träume träumen uns, oder nicht?«). Am Montag, den 12 APR 2010, notierte sie: »In sorrow all the facial muscles relax« (»In der Trauer entspannen sich alle Gesichtsmuskeln«). Ioana Nemeş ist 2011 im Alter von 32 Jahren in New York an einem Herzinfarkt gestorben. Ihr versonnenes, tragisch früh beendetes Werk wurde seither immer wieder ausgestellt, doch nur selten in einer Einzelschau wie jetzt in den intimen Räumen von Between Bridges.

 

 

© Spore Initiative

Between Bridges ist ein nicht-kommerzieller Kunstort—Tillmans hat den Raum dafür mit einem von ihm beauftragten Neubau selbst geschaffen, nachdem der Projektraum viele Jahre in einem Schöneberger Ladengeschäft war. Eigentlich ist die freie Kunstszene in Berlin ja notorisch klamm, mietet sich für ihre Projekte solche, möglichst günstige Gewerbeflächen an. Doch so viele gibt es davon nicht mehr. Die queere Performerin Filipka Rutkowska hat ihre wild zwischen Ritual und Stand-up-Comedy changierende Fitness-Session schon auf Warschauer Hochhausdächern aufgeführt—für BAW Featured wird sie die Performance nun in einem dieser selten gewordenen Berliner Ladengeschäfte zeigen: in der Pickle Bar in Moabit, dem Projektraum der Künstlergruppe Slavs and Tatars.

Die Spore Initiative ist die private Form eines Museums, wie es der International Council of Museums (ICOM) seit August 2022 vor allem für die öffentlichen Häuser definiert, nämlich »inklusiv«, »partizipativ«, »Nachhaltigkeit und Diversität fördernd«.

 

Stadträumlich mit ziemlicher Power bringt die Spore Initiative neuerdings in Neukölln ihren ganzheitlichen, inklusiven Ansatz in die Berliner Kunstszene ein. Außen geschichtete Ziegel, innen roher Beton, haben die für ihre Schulbauten bekannten AFF Architekten ein riesiges Kulturhaus mit Ausstellungsräumen, Ateliers, einem hauseigenen Kino, einer Bibliothek, Terrassen und einem Garten für Spore an der Hermannstraße neu gebaut. Die Stiftung des Unternehmers und Versandhauserben Hans Schöpflin finanziert das ungewöhnliche Projekt unter Direktorin Antonia Alampi, die zuvor in Berlin mit dem heutigen HKW-Intendanten Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Savvy Contemporary künstlerisch leitete. Kunst als Austausch von Wissen und als ein kollektiver Prozess spielt bei Spore eine große Rolle. Während der Berlin Art Week wird die bestehende Ausstellung sukzessive um sechs neue Beiträge ergänzt. Sie alle lenken den Blick auf unseren ökologisch erschöpften Planeten. Dann wird der guatemaltekische Künstler Edgar Calel mit seinen vergänglichen Installationen aus Erde, Früchten oder Werkzeugen das Verhältnis von Gesellschaft und Natur befragen. Und es werden die fantastischen Landschaften der Künstler Tushar und Mayur Vayeda enthüllt. In reduzierten, kräftigen Farben und den geometrischen Formen der traditionellen Malerei der indischen Volksgruppe Warli, dem die Brüder angehören, treten darin mythische Kreaturen, Tiere und Menschen auf. Und Bärbel Rothhaar, die schon seit Jahren mit Figuren aus Bienenwachs oder Bienenhotels die Bedeutung der Insekten für unser Ökosystem künstlerisch verarbeitet, wird bei Spore eine Pollen-Landkarte vorlegen.

 

Ioana Nemeș, Monthly Evaluations – 10.08.2006 (2011), Ortsspezifische Installation, Vinylschrift, Wandfarbe, Foto: Stuart Whipps / Eastside Projects Birmingham, Courtesy KILOBASE BUCHAREST / Ioana Nemeș Archive

Die Spore Initiative ist die private Form eines Museums, wie es der International Council of Museums (ICOM) seit August 2022 vor allem für die öffentlichen Häuser definiert, nämlich »inklusiv«, »partizipativ«, »Nachhaltigkeit und Diversität fördernd«. Geradezu subversiv hingegen richtet sich ›The Fairest‹ an den Kunstmarkt. Zum zweiten Mal stellt die Messe junge Kunst zum Verkauf im Kühlhaus aus, in dem um 1900 wirklich die Hummer der Stadt frisch gehalten wurden. Unter dem schneidigen Titel »Get Used to This« versammeln die Organisatorinnen und Kuratorinnen Eleonora Sutter und Georgina Pope vom 13 bis 17 SEP rund 30 Künstler*innen. Die sind oft nicht von Galerien vertreten und tauchen folglich nicht in den üblichen Messen auf. Wird ein Kunstwerk verkauft, behalten die Künstler*innen den Großteil des Betrags für sich.

 

›The Fairest‹ ficht den Kunstmarkt anmit eben jenen Mitteln des Marktes.

Ästhetisch ist ›The Fairest‹ mehr Ausstellung als Messe. Keine Booths, also keine Kammern je Galerie, in denen auf üblichen Messen alle Kunst wie in einem überfüllten Supermarkt hineingequetscht wird, sondern auf die Räume verteilte Objekte und Installationen, rough und unverputzt, als wäre man in den Berliner Neunzigern. So treffen hier etwa surreale Szenerien aus Figuren, Videos und Alltagsmaterialien von Alexander Iezzi auf Göksu Konaks Materialrecherchen zu queerer Geschichte. ›The Fairest‹ ficht den Kunstmarkt an—mit eben jenen Mitteln des Marktes. Und am Samstag, 16 SEP, kommt dann auch ›Mother.Loading‹ zur Indie-Messe. Mit ihren flirrenden Videos und Performances, die aus den Tiefen einer wilden Clubnacht zu kommen scheinen, agiert die Künstler*innengruppe auch als Werbeagentur—aber mit ethischem Anspruch. Im Kühlhaus wird also über die Tage der Berlin Art Week Kommerz mit Gutem verbunden werden. Und mit dieser Vereinbarung von scheinbar Unvereinbarem erweitert ›The Fairest‹ das Spektrum von BAW Featured zwischen Institution, Kunstmarkt und Projektraum, zwischen informellen und gestandenen Initiativen.

 

 

Die gesamte BAW Featured 2023 Auswahl:

 

 

 

DAS KÖNNTE IHNEN AUCH GEFALLEN