Achim Freyer. 70 Jahre Malerei zwischen Ost und West

von 
Achim Freyer, ›Mit T 2‹, 2022, Acryl auf Leinwand, vierteilig, 200 x 200 cm

Zwischen Ordnung und Störung, Ost und West—Johannes Odenthal über Achim Freyers Schaffenswerk, erzählt in Bildern.

›Ordnung und Störung von Ordnung‹—so bezeichnet Achim Freyer selbst das Grundthema seiner künstlerischen Arbeiten zwischen 1965 und 1971. Massengesellschaften, so Freyer, streben nach Serienproduktion auf Kosten von Individualität. Der Einzelne kann nur durch Uniformität seine Aufnahme als Glied der Gemeinschaft erreichen, er ist durch die Produktionsmechanismen gezeichnet. Freyer bezieht diese Kritik nicht allein auf die Kulturpolitik der sozialistischen Länder, er begreift sie als eine Grundsatzkritik an der Moderne. Dabei wird der Künstler zum individuellen Störer. Die Serie der U-Bahnbilder, in der die anonymen Gesichter als Silhouetten oder Schablonen erscheinen, ist erster Ausdruck dieser inhaltlichen Auseinandersetzung mit Massengesellschaft und Individuum. Exemplarisch sei hier das ›U-Bahnbild mit Individuum‹ von 1966 genannt, in dem den menschlichen Gesichtern alles Individuelle genommen ist.

 

Die kleine Buntstiftzeichnung ›Weinberge aus bewegter Position‹ von 1968 erfasst die Erfahrung des Malers bei einer Bahnfahrt, bei der die Reihen von Weinstöcken im fahrenden Zug zu waagerechten Linien werden. Diese Erfahrung der eigenen Zeit und Wahrnehmung wurde zur Initialzündung für einen ganzen Werkkomplex der Abstraktion und ästhetischen Neubestimmung. Die horizontalen Linien wurden zur bestimmenden Bildfindung. Umso stärker im Bild die Abstraktion zur Waagerechten tendiert, desto weniger setzen sich die Individualitäten durch. ›Vorübergehender‹ und ›Vorübergehende‹, zwei Bilder von 1968, zeigen die menschliche Silhouette in der zeitlichen Dehnung, die Horizontale nur partiell durchbrechend. Als Konsequenz kommt es zur formalen Transformation von Figuren zu Schemen und schließlich zur radikalen Abstraktion. ›Seestück‹ von 1970 besteht ausschließlich aus horizontalen Linien, die durch Faltungen der Bildfläche entstehen. Es handelt sich um einen äußerst produktiven visuellen Prozess, der sich auch auf die Bühne überträgt. Die horizontalen Streifen waren Gestaltungsprinzip der Stufenbühne für Benno Bessons ›Der gute Mensch von Sezuan‹ in der Volksbühne 1970. Die Streifen beschrieben die Hierarchie von den Göttern über den Vermieter bis zu den Elendsvierteln. Die Horizontale in ihrer radikalsten Form realisierte Achim Freyer mit drei Röhren, die mit Leuchtfarben und Silberpapier in Streifen gefasst, sich allen Vorgaben der DDR-Kunstpolitik verweigerten.

 

Am 25. Juni 1971 wurde die erste Einzelausstellung von Achim Freyer im Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf nahe Dresden eröffnet. Das Institut war das größte Wissenschaftsinstitut der DDR mit etwa 1500 Beschäftigten. Ausstellungsträger war die Instituts-Kulturkommission des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der Radiochemiker Eberhard Gäbler, Initiator der Ausstellung und Förderer von Achim Freyer, beschreibt die Arbeit der Kommission so: »Wir wollten einerseits durch große Breite vielen etwas anbieten, andererseits unsere Freiräume für ausgegrenzte Künstler nutzen.« Die Freiräume entstanden dadurch, dass die Ausstellungen nicht öffentlich, sondern nur den Mitarbeitern des Zentralinstituts zugänglich waren. Die etwa 30 Bilder und Objekte, die vom 25. Juni bis zum 1. Juli 1971 ausgestellt wurden, gehörten im Wesentlichen der Werkgruppe ›Streifen, Ordnung und Störung von Ordnung‹ (1967–1971) an. Abstrakte Kunst war bis dahin mit Ausnahme einer Hermann-Glöckner-Ausstellung 1969 im Dresdener Kupferstichkabinett in der DDR nicht zu sehen gewesen.

1971 inszenierte Adolf Dresen ›Clavigo‹ am Deutschen Theater. Bühnenbild und Kostüme verantwortete Achim Freyer. Nach der Premiere am 7. Dezember 1971 wurde die Produktion wegen mit dem Westen konvergierender Bildsprache abgesetzt. Freyer erhielt Hausverbot. Für Achim Freyer war der Spielraum seiner künstlerischen Arbeit sowohl in der bildenden Kunst als auch im Theater so eng geworden, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah als die Republikflucht. Während eines Gastspiels mit ›Der gute Mensch von Sezuan‹ 1972 in Norditalien mit Stationen in Mailand, Florenz, Genua und Turin sowie einer Ausstellung in Florenz gelang die Flucht.

Der Systemwechsel wurde für Achim Freyer zur künstlerischen Herausforderung. ›Gefesselt in Freiheit‹, so beschreibt er selbst seine Ausgangssituation in der westlichen Welt. Gegen die totale Abstraktion von Waagerechten aus der Zeit um 1970 setzte er jetzt die Sinnlichkeit des Gebrauchten, die Spuren des Verfalls, des Lebendigen. In seiner Malerei und in den Objekten nach 1972 reagierte Freyer unmittelbar auf die neue Wirklichkeit im Westen. »[Ich] war erstickt von der Sauberkeit dieser Westwelt. Die Häuser waren alle schneeweiß gestrichen, sodass ich das Gefühl hatte, sofort in den Schmutz greifen zu müssen.«

Die seriellen, abstrakten Farbexperimente aus der Zeit vor der Flucht erschienen Freyer nun wie Imitationen der amerikanischen Moderne. Seinen Installationen mit Leuchtfarben, Provokation in der DDR, begegnete er jetzt an jeder Tankstelle im Westen. Achim Freyer wurde konfrontiert mit den Gesetzen von Kunstmarkt und Kunstgeschichte, die eine parallele Moderne im Osten Deutschlands und Europas nicht zuließen. Exemplarisch beschreibt er die Erfahrung mit dem Galeristen Alfred Schmela, der ihm nach seiner Flucht anbietet, sein gesamtes Werk abzukaufen, das er bei sich hatte. Für jede Arbeit bot er ihm 100 DM. Freyer lehnte ab. Auf die neue Situation reagierte Freyer mit einer Serie von menschlichen Silhouetten, die mit Tempera, Kreide oder Farbstift auf Packpapier gemalt sind. Die an Oskar Schlemmer erinnernden Schemen, die verwandt sind mit den Figuren der U-Bahnbilder aus den 1960er Jahren, scheinen in neuer Gestalt wiederzukehren, die Beine umschlungen mit Bändern. Der Mensch ist gefesselt, gefesselt in und durch Freiheit.

 

Achim Freyer, ›Figur im Raum‹, 1976, Dispersion und Pastellkreide auf Packpapier, 125 x 145 cm

Ausgangspunkt für seine Assemblagen und Environments sind gefundene Kisten und Kästen, Collagen mit Alltagsgegenständen, Abfall oder kleinen Zeichnungen und Übermalungen. Sie sind nicht nur eine Reaktion auf die glattpolierte Oberfläche der westdeutschen Gesellschaft, sie sind auch Zustandsbeschreibungen innerer Verletzungen und Wunden, die nach außen drängen und nach Transformation verlangen. Zeichen von Heimatsehnsucht, ein Tannenbaum, Wald, Hase oder Kreuz, tauchen Ende der 1970er Jahre in der Malerei auf, die auf die Phase der ›Großen Gesänge‹, wie sie Freyer selbst nennt, der Jahre bis 1984 hinführen, einer umfangreichen Serie großer Farbmalereien, einem wahren Bilderrausch, der in die Ausstellung ›Achim Freyer: Malerei‹ in der Großen Orangerie des Charlottenburger Schlosses im Oktober 1983 mündete.

Verstärkt widmete sich Freyer den Fragen der Bilderweiterung, nicht nur durch die Verwendung von gefundenen Objekten, sondern insbesondere auch durch die Ausweitung von Bildideen in räumliche Konstellationen. Er machte einen weiteren Schritt mit einer Reihe von Environments. Diese künstlerische Ausdehnung in Installationen und temporären Denkmälern wie dem ›Monument des Heinrich von Kleist‹ 1975 in Stuttgart fanden ihren Höhepunkt 1977 in der Teilnahme an der documenta 6 mit dem Environment ›Deutschland – ein Lebensraum‹.

Die documenta 6 verdeutlicht, wie sehr Achim Freyer in die kulturpolitische Ost-West-Gemengelage eingebunden war. Und wie sehr ihn seine eigene Position als Heimatloser im geteilten Deutschland beschäftigte. Dass sie zu einer einzigartigen produktiven Dynamik führte, war für alle ein Glücksfall, für die bildende Kunst, für das Theater und für Achim Freyer selbst.

Achim Freyer begleitet ein lebenslanger Malstrom, über den er sich mitteilt und mit der Welt verbindet. Im Sinne von 1001 Nacht meint Freyer ein Erzählen, das unser Leben rettet. Nur durch die Möglichkeit, weiter zu erzählen, kann Scheherazade überleben. Nur durch eine solche existenzielle Wahrnehmung wird Freyers ungebrochenes Weitermalen verständlich. Und so wie die Bühne ihm zum Raum der Neuordnung aller Sprachelemente wird, einer Sprache, die wir träumen, die uns emporsteigen lässt, wenn wir das Schweigen erfahren, wird die Bildfläche zur Mitteilung eines inneren Leidenswegs, zum Motor einer lebenslangen Erzählung, angetrieben von der Sehnsucht, die Einsamkeit und das Schweigen zu überwinden. Es ist ein fragiler Weg und zugleich eine große Kraft als Antwort auf die inneren und äußeren Abgründe, auf Tod und Krieg. »Das Unmöglich-Machen von Zerstörung durch Sensibilisierung, durch Zartheit und Kraft. Wenn das gelingt! Ich muss malen, ich kann nicht anders. Dieser bedingungslose Drang. Da hilft keine kritische Nachahmung von Krieg und Zerstörung. Es muss ein Gegenbild sein.«

Wie sein Lehrer Bertolt Brecht setzt Freyer auf eine kritische Haltung bei gleichzeitigem Ringen um Leichtigkeit, um den Flügelschlag des Schmetterlings zu erfahren: »Ich ahne eine große Freiheit und Leichtigkeit, die sich in der Malerei ausdrückt, die aber übereinstimmen muss mit der Wirklichkeit des Lebens. Freiheit, die ich meine, ist ein Wegemotiv, aber keine Seins-Chance. Der Körper ist eine Fessel wie auch die Umwelt. Aber dadurch ist die Sehnsucht nach dem Flug des Schmetterlings so groß, weil wir ohne diese Dimension des Augenblicks nicht existieren können.«

 

 

Kurzbiographie Achim Freyer

Der Maler, Theatermacher, Sammler und Hochschullehrer Achim Freyer wird 1934 in Berlin geboren, wird nach seinem Studium an der Fachschule für angewandte Kunst in Berlin-Schöneweide 1955 Meisterschüler von Bertolt Brecht und flieht 1972 wegen künstlerischer Repressalien aus der DDR in den Westen. Er wird zu einer der prägenden Künstlerpersönlichkeiten der Nachkriegsmoderne und als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner weltbekannt. Als bildender Künstler nimmt er zweimal, 1977 und 1987, an der documenta teil. Seitdem wird das ständig wachsende Werk von Achim Freyer in zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen von Los Angeles über Venedig, Wien, Tel Aviv, Berlin, Moskau bis Seoul ausgestellt.

Die Retrospektive ›Achim Freyer Bilder‹ im Schloss Biesdorf zeigt erstmals das bildkünstlerische Schaffen von Achim Freyer aus über 70 Jahren in einem großen Zusammenhang.

 

 

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