»Anatomiegeschichte ist hilarious«

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Mariechen Danz, ›Digestive System 3d (fossilizing / extinct horn)‹, 2019. © Foto: Trevor Good

Die Berlinische Galerie zeigt anlässlich der Verleihung des Gasag-Preises 2024 eine Einzelschau von Mariechen Danz.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

 

In Mariechen Danz’ Atelier steht die Luft. Die Künstlerin trägt ein mit einer Stecknadel improvisiertes, erdfarbenes Kleid und offene Plateauschuhe. Trotz der Hitze bewegt sie sich schnell. Anderthalb Stunden hat Danz Zeit. Dann holt sie ihren zweijährigen Sohn ab. Im Eingang ihres geräumigen Studios in Berlin-Wedding steht ein Regal, dessen Inhalt durch einen Vorhang verdeckt ist. Danz öffnet ihn schwungvoll. Zum Vorschein kommt eine Sammlung transparenter Abgüsse: Organe aus Kunstharz. Nieren, Lungen und Herzen. »Den musste ich abändern, weil neue wissenschaftliche Erkenntnisse rausgekommen sind«, sagt Danz und zeigt auf einen Darm.

Und schon ist man mittendrin im Danz’schen Kosmos. Die deutsch-irische Künstlerin, 1980 in Dublin geboren, wurde gerade mit dem Gasag-Preis 2024 ausgezeichnet. Damit verbunden ist eine Einzelausstellung in der Berlinischen Galerie, die, kuratiert von Guido Faßbender, unter dem Titel ›edge out‹ zur Art Week eröffnet.

Neben dem Organ-Regal steht eine Stange mit voluminösen Kleidern. Eines davon trug Danz 2017 für ihre Performance bei der Biennale in Venedig. Während sie wie in einem Ritual singend die Frage umkreiste, weshalb wir wissen, was wir wissen, konnte man ihren Körper zwischen all den Stoffschichten kaum noch ausmachen.

Nicht nur die Kleider, die Danz für ihre Performances trägt, bestehen aus mehreren Schichten. Auch die Erdkugel, Teile unseres Körpers (wie die Haut) und unser im Lauf der Geschichte entstandenes Wissen über das alles. Woher wissen wir, was wir wissen? Und welche Rolle spielt dabei der Körper? Diese Fragen beschäftigen Danz, die seit Beginn ihres Studiums an der Universität der Künste 1999 in Berlin lebt. Schon in der Schule pauken wir Texte, Schaubilder und Modelle. Unser Wissen beruht auf Gedrucktem. Danz’ Praxis besteht in einer Art Gegenzauber zur Macht westlicher Erkenntnisstrukturen. In ihren Performances und Installationen interessiert sie sich für alternative, nichtschriftliche Formen, Wissen weiterzugeben, beispielsweise körperlich, magisch oder mündlich.

Während Danz in der Küchenzeile in einer Ecke ihres Ateliers Filterkaffee kocht, schaue ich mich um. In der Spüle steht dreckiges Geschirr, und mir kommt der Gedanke, dass man eben, auch wenn man hochdotierte Preise gewinnt und Einzelausstellungen in wichtigen Institutionen hat, so unglamouröse Aufgaben erledigen muss, wie Geschirr abzuwaschen.

Bis zur Eröffnung sind es noch fast zwei Monate. Im Raum stehen unfertige Werke, die Teil der Ausstellung werden sollen. An der Wand hinter uns hängen Aluminium-platten in der Form überlebensgroßer Menschenkörper. In sie hineingestanzt sind verschieden große Löcher, die zusammen Muster ergeben. Danz stellt die Tassen auf den Tisch und erklärt, dass es sich bei den Öffnungen um Formen von Ventilen, Steckdosen und Anschlüssen handelt: »Jede Öffnung hat eine Funktion für eine Maschine, zur Datenübertragung oder zur Lüftung.«

 

Schattenbild oder Realität?

Auf dem Tisch vor uns liegen ein paar aus Aluminium gegossene Ohren und Bauchspeicheldrüsen. Letztere Form hätte ich ohne Danz’ Erklärung gar nicht zuordnen können. Schon komisch, dass diese ganzen irre aussehenden Organe im Inneren des Körpers ständig Dinge für einen erledigen, von denen man selbst keine Ahnung hat. Sie schnappt sich ein Ohr und hält es an so einen Aluminiumkörper. »Die Organe bringe ich wie Votivgaben an.« Im Ausstellungsraum plant sie die Figuren dann so an die Wand zu montieren, dass sich die Muster der Öffnungen durch den Lichteinfall wie Sternbilder als Schatten an der Wand abzeichnen. Seit jeher haben Menschen den Himmel kartografiert, um das, was für sie nicht greifbar ist, wenigstens mit dem Verstand zu vermessen. Sternbilder beschreiben unsere Beziehung zur Welt. Sie verorten uns. Diese Bilder und Modelle helfen uns, unser Verhältnis zur Welt gedruckt festzuhalten. Und genau das interessiert Danz. Sie nimmt ein DIN-A4-Papier und faltet die Längsseiten nach oben, um zu zeigen, wie sie sich die Halle im Erdgeschoss der Berlinischen Galerie vorstellt. »Der Raum wird zur Karte.« Dabei sollen die üblichen Parameter – oben und unten, Nord, Ost, Süd und West – durcheinandergeraten. 214 Abgüsse von Fußsohlen plant Danz nicht nur am Boden, sondern auch an den Wänden anzubringen. Als ob das, was für uns die Wand ist, für jemand anderen den Boden darstellen würde. Die Werkgruppe trägt den Titel ›Possible Paths‹.

Danz deutet auf einen Haufen Ziegelsteine. Aus denen will sie einen Schreibtisch bauen. Unter dem Titel Body Brick Desk wird er ein zentrales Objekt in der Ausstellung. In die Ziegelsteine eingeprägt sind Organe und Knochen eines anatomischen Modells sowie Abdrücke »echter« Hände und Füße. Darauf kommt eine Glasplatte. Durch die sollen dann Stäbe ragen, an deren Enden die Abgüsse der Organe montiert sind. Wie kommt man darauf, Abgüsse von Organen zu machen? »Knochen und das Weichgewebe des Körpers kann man mumifizieren. Die Funktion der Organe lässt sich nicht anhand konservierter Objekte erforschen. Deshalb finde ich das spannend.« Danz erzählt, dass sich auch die Organabgüsse durch ihre Schatten an den Wänden wiederholen sollen. Zusätzlich will sie mit Farbe bleibende Schattenbilder an die Wände malen. Mit den Schatten spielt sie auf Platons Höhlengleichnis an. Entspricht das, was wir zu wissen meinen, vielleicht gar nicht der Realität?

Ich will wissen, seit wann sie sich für die Themen Wissen und Körper interessiert. »Von Anfang an«, antwortet Danz, ohne überlegen zu müssen, »wobei es zu Beginn meines Studiums mehr um Kommunikation und Missverständnisse ging. Ich missverstehe viel.« Diese Frustration wegen der Limitierung von Sprache führte sie zur Geschichte der Techniken und Medien, die Wege vorgeben, zu kommunizieren und Wissen zu vermitteln. Da wäre einmal das lateinische Alphabet, das einem dazu in den Kopf kommt, aber auch Aufnahmegeräte und die Druckerpresse. »Danach kam das Interesse für Anatomie.« Wenn ihr ein Wort auf Deutsch nicht einfällt, oder einfach, wenn es besser passt, streut sie Englisch ein: »Die Anatomiegeschichte ist hilarious, absoluter Slapstick. Alle Kulturen sind aufgrund der geltenden Auffassung der Anatomie des Körpers strukturiert. Aber das Wissen über den Körper wird im Nachhinein oft als fehlerhaft erkannt.«

Danz springt auf. Ihr ist etwas eingefallen. Ich folge ihr zu einem Tisch, auf dem ein großer Computer steht. Danz möchte mir ein Video zeigen, das in der Ausstellung zu sehen sein wird. Während sie sich auf der Suche nach der Datei hektisch durch die Ordner klickt, spricht sie mit dem Computer, als könnte sie ihn anfeuern, die Programme schneller zu laden. Dabei dehnt sie manche Vokale gedankenverloren in die Länge und beginnt einzelne Worte leise mit ihrer warmen Stimme vor sich hin zu singen. Obwohl sie nur andeutet, hört man, dass sie das gut kann. Bis vor einiger Zeit hatte Danz eine eigene Band, UNMAP. Begleitet von repetitiven oder hypnotischen Sounds, die in Kollaboration mit dem Künstler Gediminas Žygus entstanden sind, wird auch in dem Video in der Berlinischen Galerie ihre Stimme zu hören sein. Danz’ Stimme ist oft Teil ihrer Arbeiten. Die Texte, die sie dabei singt, aber nicht als Lieder bezeichnet wissen will, schreibt sie selbst: »Ich nehme oft wissenschaftliche Texte und ersetze das Nomen durch »I«, wie in einem Popsong.« Dann ist es nicht mehr das Herz, das etwas tut, sondern »I«, also ich. Indem sich Danz die wissenschaftliche Sprache aneignet und subjektiviert, kehrt sie die Tatsache hervor, dass auch scheinbar objektive Erkenntnisse immer subjektiv sind. Sie beruhen auf einer Perspektive und Rahmenbedingungen – die Zeit, der Ort, die Art der Fragestellung oder die Finanzierung.

 

Künstlerische Forschung

Ob sich ihre Faszination für das Mündliche auch durch ihr Aufwachsen in Irland erklären lässt? Danz bejaht. Durch die englische Kolonisierung wurde die irische Sprache marginalisiert. Innerhalb der irischen Kultur gab man Wissen oft mündlich weiter, meist in Form von Gesängen. Weil Melodie und Wiederholung die Erinnerung erleichtern. »Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter Irin.« Zu Hause sprach die Familie Englisch. Weil es Pflicht war, lernte Danz in der Schule Irisch. »Heute singe ich auf Englisch, aber meine ersten Performances waren immer auf Irisch«, erzählt die Künstlerin im Rückblick auf ihre Studienzeit.

Danz, die heute selbst an Kunsthochschulen lehrt, beschäftigt sich neben ihren Recherchen zur Kartografie und Anatomie auch mit Philosophie. In vielen Texten über die Künstlerin taucht der französische Philosoph Gilles Deleuze auf. Als ich sie nach seiner Bedeutung für ihre Arbeiten frage, lacht Danz. »Als ich Deleuze im Studium gelesen habe, dachte ich, ich verstehe gar nichts.« Ein Professor riet ihr, die Texte wie Gedichte oder Liedtexte zu lesen – passend zu ihrer eigenen künstlerischen Praxis. Und es hat funktioniert: »You keep on going, es ist nicht Mathe. Das körperliche Erlebnis von Rhythmus und Melodie, Enge und Weite schafft einen Zugang.« So wie sich die Lunge beim Singen weitet und verengt, Musik laut und wieder leise wird, so bewegen sich auch Deleuzes Texte zwischen Makro und Mikro. Sie schlagen aus ins große Gesamtgesellschaftliche und ziehen sich zusammen im Blick auf die kleineren Zusammenhänge. So entsteht eine Bewegung – nicht nur auf der inhaltlichen, auch auf der klanglichen Ebene.

Gegen Ende unseres Gesprächs geht es ans Eingemachte. Wir sprechen über den Bezug, den Kunst, die sich mit Wissenschaft beschäftigt, selbst zur Wissenschaft hat. Mit ihren Werken bezieht sich Danz ja auf Wissenssysteme, Anatomie- und Geografiegeschichte. Auch wenn man ihre Arbeit im Kunstjargon als künstlerische Forschung bezeichnet, gelangt sie selbst mit ihren subjektiven Kunstwerken ja aber nicht zu wissenschaftlich objektiven Erkenntnissen, oder, wie Danz es ausdrückt: »Ich mache keine Enzyklopädien.« Was dann? Statt Ordnung zu schaffen, bringt sie Wissenssysteme durcheinander, um aus dem Chaos eine Vielzahl möglicher Ordnungen und Geschichten zu entwickeln. Sie erinnert uns daran, dass in dieser einen Welt trotzdem viele Perspektiven gleichzeitig bestehen. In Bezug auf ihre Arbeitsweise sagt Danz: »Die Sprache ist desperate. Kunst entfaltet sich anders als Sprache.« Und dann bringt sie es auf den Punkt: »Natürlich lese ich viel. Aber ich habe 2.455 Ziegelsteine mit vier Leuten innerhalb weniger Tage von Hand geprägt. Wir haben gearbeitet, bis uns der Arm abgefallen ist. Das kann man sich nicht denken. Das Denken passiert durch das Machen.«

 

›Mariechen Danz. edge out‹ Berlinische Galerie, 13. September 2024 bis 31. März 2025