Berlin, die 90er. Ein Einblick der OSTKREUZ Fotograf*innen

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Thomas Meyer, aus der Serie › Tresor‹, 2000. © Thomas Meyer/OSTKREUZ

Berlin in den 90ern war eine Stadt im Umbruch, auf der Suche nach einer neuen Identität. Der Fall der Mauer 1989 verwandelte Berlin in einen Ort der Möglichkeiten, wo Subkulturen florierten und kreative Zwischennutzungen den urbanen Raum neu definierten. Doch diese Zeit war auch geprägt von einem Spannungsfeld zwischen Aufbruchsstimmung und Verlustängsten.

In der Ausstellung ›Träum Weiter — Berlin, die 90er‹ präsentiert C/O Berlin rund 200 Arbeiten von neun Mitgliedern der Agentur OSTKREUZ, darunter die Co-Gründer*innen Sibylle Bergemann, Harald Hauswald, Ute Mahler und Werner Mahler sowie Annette Hauschild, Thomas Meyer, Jordis Antonia Schlösser, Anne Schönharting und Maurice Weiss. Diese Fotograf*innen beobachten mit genauem Blick die gesellschaftlichen Veränderungen und die Herausforderungen des Zusammenwachsens der ehemaligen Mauerstadt.

35 Jahre nach der Gründung der Agentur OSTKREUZ und im Jubiläumsjahr des Mauerfalls spiegeln die gezeigten Fotografien, darunter auch bisher unveröffentlichte Bilder, das ambivalente Lebensgefühl dieser prägenden Dekade und ermöglichen einen neuen Blick auf diese transformative Ära.

In den folgenden drei Beiträgen geben die Fotograf*innen Werner Mahler, Anne Schönharting und Thomas Meyer am Beispiel jeweils eines ihrer Bilder einen persönlichen Einblick in die vielfältigen und oft widersprüchlichen Erfahrungen der 90er Jahre in Berlin. Weitere faszinierende Bildergeschichten finden Sie in der C/O Berlin Zeitung.

 

 

Werner Mahler, aus der Serie ›9. November 1989‹, 1989 © Werner Mahler/OSTKREUZ

Werner Mahler

Der Abend des 09. November 1989.
Die Mauer ist offen, das Symbol der Trennung und der Ausgrenzung.
Es ist so unvorstellbar. Ich muss dabei sein, muss es erleben, muss fotografieren.
Meine Frau, mein Sohn und ich fahren aus Brandenburg mit dem Auto zum Grenzübergang Bornholmer Straße, der soll schon geöffnet sein.
Unzählige Autos und Menschen drängen sich vor der noch geschlossenen Mauer. Weil nur Fußgänger die Grenze passieren können, gehe ich zu Fuß los, um zu fotografieren. Mit der Familie verabrede ich mich gegen 24 Uhr am Café Kranzler. Ich laufe quer durch die ganze Stadt, von der Bornholmer Brücke, zum Übergang Heinrich Heine Straße und bin um Mitternacht am Kurfürstendamm. Natürlich finden wir uns in der feiernden Menschenmenge nicht.
Ich laufe weiter zum Brandenburger Tor.
Dort auf der Westseite der Mauer haben schon alle großen westlichen Nachrichtenagenturen ihre Kameras und Übertragungswagen aufgebaut. Die Mauer am Brandenburger Tor ist sehr breit und auf ihr tanzen überglückliche Menschen aus Ost und West vor dem gleißenden Licht der Scheinwerfer. Ich springe so wie viele auf die Ostseite. Eine absurde Vorstellung: einen Tag zuvor war die Mauer noch ein „No Go“, die unerlaubte Annäherung konnte Verhaftung oder gar den Tod bedeuten.
Ich schaue in Richtung Osten auf das dunkle Brandenburger Tor.
Ein Mann mit hochgerissenen Armen kommt beseelt direkt auf mich zugelaufen.
Ich löse aus.
Die Ostseite liegt im Dunklen.
Vereinzelt stehen hilflos wirkende Gruppen der DDR-Grenzsoldaten mit Blumen in den Gewehrläufen.
Es ist der sehr frühe Morgen des 10. November 1989.
Ein Jahrhunderttag.
Ich will nach Hause und gehe als einer der Ersten vom Westen in den Osten durch das Brandenburger Tor.

 

Anne Schönharting, aus der Serie ›Berliner Jugend‹, Berlin, 1999 © Anne Schönharting/OSTKREUZ

Anne Schönharting

Was mir an diesem Bild besonders gefällt, ist die Möglichkeit der vielfältigen Interpretation. Als ich das Foto vor 25 Jahren aufnahm, war ich selbst noch eng mit meiner Jugend verbunden. Wahrscheinlich erinnerte mich der Anblick des Jungen, der mit seiner Mutter und dem Hund beim Abendessen sitzt und dabei fernsieht, an meine eigenen unbehaglichen Gefühle in der Pubertät. Ich erinnere mich auch an die Faszination und Erheiterung, welche ich beim Anblick der drei ähnlichen Gesichtsausdrücke empfand.

Heute denke ich eher über die damals einsetzende Gentrifizierung und ihre Auswirkungen auf die Bewohner des Prenzlauer Bergs nach. Ich sehe eine Frau, die vielleicht von der Angst vor Arbeitslosigkeit, den gesellschaftlichen Umbrüchen der 90er Jahre und dem Alleinerziehen geprägt ist. Selbst der Hund scheint diesen emotionalen Zustand widerzuspiegeln.

 

 

Thomas Meyer, aus der Serie › Tresor‹, 2000. © Thomas Meyer/OSTKREUZ

Thomas Meyer 

Ende der 1990er und auch noch in den Nullerjahren, war es eigentlich kein großes Problem, in Clubs zu fotografieren. Man hat sich angemeldet oder auch nicht und fertig, nobody cared. Erst mit den Smartphones, der digitalen Kameratechnik und Social Media hat sich das geändert.

2000 habe ich die Loveparade-Party im Tresor fotografiert. Ich habe mir den Wecker auf 4 Uhr morgens gestellt und war bei Sonnenaufgang im Tresor, wo die Party schon seit dem Tag davor lief und noch zwei Tage andauern sollte. Der große Außenbereich war relativ gut gefüllt, sodass sich die Leute alle möglichen Orte für ihre Körper suchten. Unter anderem auch die kleine, künstlich angelegte Insel, welche durch eine Hängebrücke begehbar war. DJ West Bam, geschützt durch seine Entourage, legte auf und wer noch konnte, tanzte zu seinen Techno-Beats.

Die 90er gehen zu Ende, die Kommerzialisierung greift immer unverfrorener nach der ehemaligen Subkultur. Während sich die Jugend versucht auf eine kleine Insel zu retten, setzt der Regen ein, aber die Party geht weiter.

 

 

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