Systemisch ist das Wort der Stunde. Und es sagt sich so leicht: Weißt du, der Rassismus ist doch systemisch! Wirklich an sich heranzulassen, was es bedeutet, wenn Rassismus, Ungleichheit, Umweltzerstörung oder Korruption systemisch sind, ist allerdings nicht ganz so einfach. Zumeist weigern wir uns, dieses System überhaupt zu erkennen und klar zu benennen, geschweige denn, uns selbst im Verhältnis zu ihm zu verorten. Stattdessen verbrämen wir die Realität mit emotionalen, häufig sentimentalen Ausflüchten, halbgaren Argumenten, mit idealistischer oder ideologischer Verklärung. Eigentlich, so denkt man da, bräuchte es einen kritischen Algorithmus, der logisch, ohne Rücksicht auf Connections, Konventionen und Gefühle das System scannt.
Natürlich ist auch ein Algorithmus niemals neutral und gehorcht stets bestimmten Voreinstellungen, aber die sture Beharrlichkeit und emotionslose Konsequenz, mit der er vorgeht, sind manchmal nicht das schlechteste Mittel, um beispielsweise die mitunter problematischen Verbindungen zu anderen Systemen aufzeigen, etwa zwischen Kunst und Corporate-Welt. Auch der liberale Kunstbetrieb hat lange gebraucht, bis er merkte, dass es nicht nur Einzelfälle sind, die da unmoralisch, extrem profitgierig oder ultra-rechts agieren. Es brauchte wohl erst Proteste wie die Nan Goldins gegen die Sackler-Familie, die den Louvre sponsorte und sich an der Opioid-Krise dumm und dämlich verdiente, oder Skandale wie den um Warren Kanders, der als Trustee des progressiven Whitney Museums Tränengasbomben produzierte, mit denen dann mexikanische Geflüchtete an der US-Grenze beworfen werden.
Die Erkenntnis benötigte etwa 50 Jahre zu lang. Denn schon seit den frühen 1970er Jahren gab es so etwas wie diesen systemischen Kritik-Algorithmus für den Kunstbetrieb. Sein Name: Hans Haacke. 1971 sollte Haacke eine Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum bekommen. Sie wurde abgesagt. Der Grund: Haackes Arbeit ›Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, a Real-time Social System, as of May 1, 1971‹, für die er wandfüllende Foto- und Textdokumentationen mit Fotos von Häusern, Stadtplänen und 142 Schreibmaschinenseiten Recherche über die New Yorker »Slumlords« zusammengestellt hatte. Damals war das Museum nicht der Ort für solche Enthüllungen sozialer Wirklichkeit. Thomas Messer, der Direktor des Guggenheim, nannte die von Haacke geplante Arbeit »eine fremde Substanz, die in den Organismus des Kunstmuseums eindringt.« Der Kurator wurde gefeuert, Haacke musste einpacken. ›Rye in the Tropic‹ und ›Beans Growing‹ (1971), zwei andere Werke, die er bereits für die Schau realisiert hatte, mussten ebenfalls beseitigt werden: Haacke hatte Roggen in den tropischen Pflanzenbeeten in den Fenstern und Bohnen auf der unteren Rampe des Museums gepflanzt—ein biologisches System mit bescheidenen Nutzpflanzen, das im mächtigen, blitzblanken Museumsapparat wirklich wie ein Fremdkörper wirkte.
Heute wird der 84-jährige in Köln geborene Künstler, der Anfang der 1960er Jahre nach New York zog, wie ein Popstar gefeiert: 2019 widmete ihm das New Yorker New Museum mit ›All Connected‹ eine opulente Werkschau, das Kunstmagazin ›Monopol‹ wählte ihn zur bedeutendsten Künstlerpersönlichkeit des Jahres. 2020 wird ihm der Goslarer Kaiserring verliehen. Auf der Berlin Art Week 2020 wird Haacke gleich mit mehreren Projekten vertreten sein. Initiiert vom Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) und realisiert von Kulturprojekte Berlin wird seine Arbeit ›Wir (alle) sind das Volk‹ (2003/2017) an den Fassaden verschiedener Partnerinstitutionen zu sehen sein. Haacke griff für die Arbeit den bekannten Slogan ostdeutscher Demonstrierender von 1989 auf, modifizierte ihn zu einem Statement der Verbundenheit aller Menschen und der Solidarität mit Migrant*innen und Geflüchteten, und ließ ihn in eine Reihe verschiedener Sprachen übersetzen. So gefeiert Haacke heute aber längst ist, so deutlich wird in einer Projektdokumentation im Showroom des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.), die ebenfalls zur Berlin Art Week eröffnet, aber auch noch einmal, wie umstritten er vor gerade einmal 20 Jahren noch war. Damals wurde seine Installation ›Der Bevölkerung‹ im nördlichen Lichthof des Reichstages eingeweiht.
Die beginnenden 2000er Jahre, das war die Zeit, in der Großkünstler wie Jeff Koons oder Damien Hirst wie Unternehmer agierten und der Kunstbetrieb immer hedonistischer wurde. Die Lounges, Rutschen, Suppenküchen der sogenannten Relational Art mit Künstlern wie Philippe Parreno oder Rirkrit Tiravanija verwandelten Institutionen in Erlebnisräume und Spielplätze. Nicht wenige atmeten auf, dass sie nun nicht mehr die Textarbeiten und Performances der Institutionskritik studieren mussten, sondern vermeintlich unbeschwert Party machen durften.
Hans Haacke war schon 1993 wegen ›Germania‹, seiner schonungslosen und sehr direkten Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und der Wiedervereinigung im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig nicht wenigen im Betrieb auf den Wecker gefallen. Zu didaktisch, zu links, ohne jeden Humor, jemand, der Kunst für ein gebildetes, elitäres Publikum macht. Anfang der 2000er-Jahre guckten junge Künstler*innen woanders hin, sicher nicht zu Hans Haacke.
Und nun wieder dieses Rumwühlen in der Vergangenheit. Haacke nahm in der 1998 vom Kunstbeirat des Bundestags in Auftrag gegebenen Arbeit Bezug auf die aus eingeschmolzenen Kanonen gefertigte Inschrift »Dem deutschen Volke«, die 1916 am Westportal des Reichstagsgebäudes angebracht worden war. Er ließ in der gleichen Typografie den Neonschriftzug ›Der Bevölkerung‹ anfertigen und montierte ihn horizontal in einen riesigen Beetkasten, sodass er in den Himmel strahlte. Bei diesem Kunstwerk sollten auch die Abgeordneten mitmachen, Erde aus ihrem Wahlkreis mitbringen, diese gemeinsam mit Besucher*innen in das Beet einfüllen, auf dass im Laufe der Zeit eine »Bevölkerung« aus unterschiedlichen Erden, Pflanzen, Mikroorganismen aus allen Teilen der Republik entstünde. Den Reichstag nicht nur Deutschen mit Pass zu widmen, sondern ganz allgemein der »Bevölkerung«, und damit auch Geflüchteten und Migrant*innen, war ein Plädoyer für Diversität. Genau wie die unterschiedlichen Erden, die im Beet in einem einzigen Bio-System aufgehen.
Doch eben das erinnerte Kritiker*innen des Projekts zu sehr an die Blut-und-Boden-Metaphorik des Nationalsozialismus. »Vom Blutrecht zum Bodenrecht: Wir erhalten eine politisch korrekte Lektion, die sich Haacke beim Anblick einer grillenden Türkenfamilie im Berliner Tierpark aufdrängte.«, schrieb Petra Kipphoff in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹, »Von der Praxis des deutschen Alltags aber hat der seit Jahrzehnten in New York lebende Künstler eine ebenso schmale Kenntnis wie die meisten Politiker.« Mit knapper Mehrheit setzten sich bei der eigens einberufenen Debatte im Bundestag die Befürworter der Installation durch. Haacke war der einzige Künstler, über dessen Arbeit im Bundestag so kontrovers abgestimmt wurde.
Die von Oliver Schwarz, einem langjährigen Mitstreiter und Projektpartner Haackes, zusammengestellte Dokumentation rekonstruiert nun nicht nur diese Ereignisse, sondern zieht zudem Verbindungen zum wenig bekannten Frühwerk, bei dem der aus der kinetischen Kunst kommende Haacke bereits in den 1960er Jahren konzeptionelle Korrespondenzen zwischen biologischen, physikalischen Systemen und sozialen Prozessen fand. So zitiert Schwarz im Gespräch auch ein Haacke-Zitat von der Einladungskarte seiner ersten großen Einzelausstellung ›Wind and Water‹ in der New Yorker Howard Wise Gallery 1966: »… make something, which cannot ›perform‹ without the assistance of its environment …«. Damit kann auch das politische Environment gemeint sein. »Obwohl nach sehr spannenden Gesprächsrunden vom Kunstbeirat mit großer Mehrheit angenommen, entfaltete sich allein um das Konzept von ›Der Bevölkerung‹ eine medial-politische Eigendynamik, deren Geschwindigkeit und Dimensionen dem heutigen Wahnwitz in Social Media-Kanälen in nichts nachstand«, erinnert sich Schwarz.
Doch was macht das Bevölkerungsbeet heute? Nach zwanzig Jahren des Wachsens und Vergehens im nördlichen Lichthof des Reichstags sei ›Der Bevölkerung‹ längst kein Gegenstand von überhitzten Debatten mehr, sagt Schwarz. Fast 400 Abgeordnete haben seit der Einweihung mitgemacht.: »Hatten bei der Abstimmung im Jahr 2000 bis auf zwei sehr couragierte Frauen sämtliche Fraktionsmitglieder der CDU/CSU versucht, das Projekt zu verhindern, so kommen, besonders in den späteren Jahren, die meisten der Erd-Beiträge aus ebendiesen Reihen. Nicht nur die Einstellungen zu ›Der Bevölkerung‹, auch die Motive der Parlamentarier zur Teilnahme haben sich ganz vielfältig verändert und werden dies wohl auch weiter tun.« Auf der Webseite des Projekts, die Schwarz betreut, kann man wunderbar im Zeitraffer betrachten, wie sich ›Der Bevölkerung‹ verändert, aufblüht und in den letzten Jahren durch den Klimawandel, der in Zukunft noch mehr Geflüchtete nach Europa bringen wird, immer größeren Belastungen ausgesetzt ist. Gut, denkt man, dass Haacke so unbeirrbar wie ein Algorithmus weitermacht.
Künstlerische Intervention anlässlich der Berlin Art Week 2020
in Kooperation mit: Akademie der Künste, Berliner Festspiele/Immersion, Gropius Bau, Haus der Kulturen der Welt, Kindl—Zentrum für zeitgenössische Kunst, Hamburger Bahnhof—Museum für Gegenwart—Berlin, Savvy Contemporary, Volksbühne Berlin und vielen weiteren Partnern, initiiert vom Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) und realisiert von Kulturprojekte Berlin.
9—13 SEP 2020
NEUER BERLINER KUNSTVEREIN (N.B.K.)
Hans Haacke. 20 Jahre ›Der Bevölkerung‹ im Deutschen Bundestag. Eine Projektdokumentation
10 SEP 2020—15 JAN 2021