Musik als Community-Paradigma für die Künste
Seit langem betrachte ich Klang- und Musikperformances als mein bevorzugtes Medium—aufgrund ihrer Ästhetik des Augenblicks und dem sich daraus ergebenden besonderen Potenzial für eine große Intensität. Sowohl der*die Aufführende als auch das Publikum müssen anwesend sein, um das Ereignis zu erschaffen, es in Bewegung zu setzen und seine Energie zu spüren, und zwar auf eine Art und Weise, die der Notwendigkeit eines Logos im besten Falle vorausgeht oder diese vielleicht sogar transzendiert.
Ich schätze auch schon immer das gemeinschaftliche Potenzial von Klang und Musik. Dies ergibt sich erstens aus den diversen Communities, aus denen sich alternative Musikszenen zusammensetzen, und, in ihren besten Momenten, aus dem Gefühl der Solidarität, die sie ausstrahlen können. Diese Solidarität kommt auch daher, dass man das Publikum als eine Gemeinschaft betrachten kann, die sich um das Konzertereignis herum versammelt, das sie als eine Masse erleben. Dies ist ein Ritual, das sowohl innerhalb als auch außerhalb des Alltagslebens steht und als kathartisches Mittel dazu dient, ein ganzes Spektrum an Emotionen zu verarbeiten und Identitäten zum Ausdruck zu bringen.
Ich schätze auch schon immer das gemeinschaftliche Potenzial von Klang und Musik.
Alle diese Punkte spiegeln unterschiedliche Aspekte des Wesens von Klang als ein flüchtiges, nicht greifbares und nur schwer besitzbares Phänomen wider, was ihn zu einer Art Außenseiter in der aktuellen Ökonomie und Logistik der zeitgenössischen Kunst macht. Das Interesse an Klang wächst.
Eine Fixierung von Klang in der Reproduktion sorgt für einen einfacheren Zugriff und erhöhte Sammelbarkeit. Zudem verschiebt sie dessen Eigenschaften auf verschiedenen Ebenen—geografisch, gesellschaftlich und zeitlich. Die geografische Verschiebung ermöglicht den Konsum außerhalb des ursprünglichen Kontextes und wirft dabei mitunter eigentumsrechtlich relevante Fragen auf. Die zeitliche Verlagerung ermöglicht zudem die Weiterführung der klanglichen Vergangenheit in die Gegenwart—ein lebendiges Etwas, das für zeitgenössische Ohren neue Bedeutung annimmt. Das wird beispielsweise beim Sampling und beim Aufbau von Klangarchiven deutlich, je nach Kontext, in dem sie entstanden sind. Eine derart retrospektive Bewertung sollte auch für unser Verständnis des Diskurses über Klang in der Kunst gelten, da dieser ebenso ein Produkt seiner Zeit ist wie das Kunstwerk selbst.
Wurde Klang ›erfunden‹?
Die kanonisierte Kunstgeschichte schreibt die Einführung des Konzepts des Klangs in der der Kunst den italienischen Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu. John Cage wird in dieser ›quasi-biologischen‹ Entwicklungslinie als weiterer, späterer Meilenstein genannt. Aus heutiger Sicht sollte man jedoch unterstreichen, wie wichtig es ist, diese Ereignisse und Praktiken in einem breiteren Kontext zu verorten.
Die Futuristen waren fasziniert vom Lärm der damals rapide an Fahrt aufnehmenden Industrialisierung, von den Klängen einer alles erobernden Moderne, die allerdings nicht aus dem Nichts entstand, sondern größtenteils von einem tiefverwurzelten Erbe aus Versklavung, Kolonialisierung, Raub an Bodenschätzen und anderen Formen der Ausbeutung vorangetrieben wurde. In ästhetischer Hinsicht wirkte die Einführung von Lärm besonders transgressiv, wenn man sie gegen einen bestimmten weißen und bürgerlichen Begriff von Schönheit setzt, der vor allem in bestuhlten Konzertsälen mit schweigendem Publikum gepflegt wurde. Aber Klangeigenschaften, die hier als ›unerwünschter Krach‹ eingestuft wurden, waren andernorts ein integraler Bestandteil der Gleichung. Afrodiasporische Musik und ihre Innovationen beispielsweise integrieren häufig Elemente, die für das europäische Ohr wie Lärm klingen—der vibrierende Klang der Metallstreifen bestimmter Mbira-Arten beispielsweise, Wassertrommeln, Häftlinge, die mit ihren Spitzhacken Arbeitslieder schufen, später Feedback und andere Methoden der Verstärkung, und so weiter. Einige dieser Musiken galten selbst als Hintergrundgeräusch, bevor sie schließlich der Status der Kunst erreichten und damit institutionelle Anerkennung und Marktwert erlangten.
John Cages Interesse an der Stille wird häufig als ein weiterer Referenzpunkt für aktuelle Klangpraktiken angeführt. Wie viele andere Komponist*innen seiner Zeit war Cage zutiefst von östlichen Philosophien beeinflusst, insbesondere von der Lehre der indischen Musikerin Gita Sarabhai. Sarabhai unterrichtete den Komponisten in indischer Musik und Ästhetik, im Gegenzug erhielt sie Unterricht in westlicher Musik. Diese Begegnung war zentral, denn sie ermöglichte es Cage, seine Perspektive zu verschieben und ganz neu über Klang, Stille und persönlichen Ausdruck in der Musik nachzudenken. Tatsächlich suchten die meisten kanonischen, westlichen, experimentellen Komponist*innen der Zeit Inspiration in Asien and Afrika. In meinem persönlichen Pantheon sticht der ägyptische Komponist Halim el-Dabh—aus einer ähnlichen Generation wie Cage—als jemand hervor, der ein Bewusstsein für die Herausforderungen und die unterschwelligen Mechanismen der westlichen Modernisierung entwickelt hatte. Bei seiner Zusammenarbeit mit äthiopischen Straßenmusiker*innen war er sich der Notwendigkeit bewusst, deren finanzielle und institutionelle Situation nachhaltig zu verbessern, indem er ihnen Zugang zur Universität verschaffte. Mit seinem ursprünglichen Hintergrund in der Agrartechnik und Sozialarbeit in Ägypten, war das Arbeiten innerhalb der Community und die Beteiligung von nicht akademisch gebildeten Menschen und Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten bei der Entwicklung von musikalischen Werken für Halim el-Dabhs Denken immer zentral.
Ein Narrativ zu konstruieren, das die Erfindung von Klang und Lärm ausschließlich den italienischen Futuristen zuschreibt ist Ausdruck einer Suche nach Identität, die bestenfalls für eine bestimmte Kategorie europäischer und europäisch geprägter Zuhörer*innen und Performer*innen relevant ist. Es ist eine Suche, die innerhalb einer Ideengeschichte stattfindet, die die europäische Tradition des klassischen Musikkonzerts ins Zentrum stellt und dem Bedürfnis nach einem Bruch mit dieser Tradition folgt, um ihr Vokabular zu erneuern. Dies ist eine Umgebung, in der die vermarktete Idee des ›Neuen‹ und des ›individuellen Genies‹ die wichtigsten Paradigmen sind.
2019 war ich im Rahmen einer Residency in Indonesien. Dort hatte ich die Gelegenheit, den balinesischen Komponisten Dewa Ali kennenzulernen, den Gründer von Gamelan Sakulat, einem Ensemble, das die Komposition Neuer Musik innerhalb des Rahmens balinesischer Gamelan-Musik erkundet. Die Mitglieder des Ensembles spielen auf Instrumenten, die speziell vom Komponisten entworfen und gestimmt wurden. Während unseres Gesprächs, in dem es unter anderem um Themen wie Experiment und Tradition ging, erwähnte er, dass Umgebungsklänge für ihn schon immer Teil der langen Tradition der kollobarativen Praxis des Gamelanspielens sind, da es schon immer draußen stattfand, weit entfernt von stillen und bestuhlten Konzertsälen. Tatsächlich probt Gamelan Sakulat im Freien, wo auch wir uns trafen. Folglich kann man in der Aufnahme seines Stücks ›Genetic‹ deutlich das Zirpen von Grillen hören.
Im Gegensatz zum objektorientierten Fokus auf dem Klang selbst als ein autonomes physikalisches Phänomen, impliziert ein Fokus auf das Zuhören Handlungsmacht.
Über das Zuhören
Statt nur ein weiteres Zeichen für ›neue Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst‹ zu sein, die auf begrenztem Verständnis und einem Kurzzeitgedächtnis basieren, kann die aktuelle Verschiebung des Interesses für das Klangliche eine Chance für eine Verschiebung von Werten und Perspektiven bieten. Klang hat keine klar umrissenen Grenzen. Er ist mehrdeutig, undefiniert, heterogen. Während wir zuhören, wird der Unterschied zwischen einer Sache und einer anderen weniger scharf. Dies ermöglicht eine Vielfalt an Bedeutungen. Auch hier verändern die durch die mündliche Tradition weitergegebenen Erzählungen, abhängig von den Zuhörer*innen, dem Kontext und der vergangenen Zeit, ständig ihre Form.
Im Gegensatz zum objektorientierten Fokus auf dem Klang selbst im Sinne eines autonomen physikalischen Phänomens, impliziert ein Fokus auf das Zuhören Handlungsmacht. Es ist ein Wechsel, der dem zwischen klassischer Physik und Quantenphysik ähnelt, wobei Letztere oft eine instabile und sich je nach den Beobachter*innen verändernde Wirklichkeit betont, im Gegensatz zu einer objektiven, unveränderlichen Wirklichkeit. Dies deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Komponente hat. Im vom Physiker John Wheeler entwickelten Konzept eines ›partizipatorischen Universums‹ wurden unbestimmte kosmische Strukturen, ursprünglich in allen möglichen Konfigurationen geformt, bis Beobachtende (zum Beispiel Menschen) und Messgeräte geschaffen wurden. In diesem Sinne macht erst das Beobachten das frühe Universum zu einer Realität. Seiner Ansicht nach spielt das Bewusstsein bei der Hervorbringung des Universums eine wichtige Rolle. Wenn dies stimmt, dann spielt auch der Akt des kollektiven Zuhörens einer nahen oder entfernteren Vergangenheit eine entscheidende Rolle, um sie zu interpretieren und ihr Leben in der Gegenwart zu offenbaren—als ein in der Zukunft verorteter Schöpfungsakt.
Wie also werden diejenigen, die uns morgen beobachten und zuhören, dies alles verstehen?