Dieser Artikel erschien zuerst in der Berlin Art Week 2025 Sonderausgabe des Freitag.
Im September 2024 sah man in dem hübschen abgerundeten Schaufenster an der Hasenheide beim Hermannplatz in Berlin das erste Mal, dass dort etwas anderes als sonst los war. Kleine Skulpturen waren eingezogen, auf den tomatenroten Sockel, der das Fenster säumt. Bei der Vernissage drängte sich eine Späti-Bier trinkende Menschentraube auf dem breiten Bürgersteig, der plötzlich mehr wie ein weltgewandtes Trottoir anmutete. Auch, weil viele von ihnen auffallend gut angezogen waren und die Konversationen, die man aufschnappte, sich da-rum drehten, was es mit diesen kleinen Skulpturen auf sich haben könnte.
Der Laden sollte ursprünglich das Farbengeschäft eines Innenausstatters werden, daher der Name: Paint Shop. Mit dem kleinen, langgezogenen Raum und den Schaukästen, die die Einfahrt säumen, haben die Gründer André Simonow, Erik Ritzel und Lukas Fritze einen Ort geschaffen, in dem inmitten vom Wahnsinn, den die Gentrifizierung hervorbringt (überteuerte Bäckereien neben einem dahinsiechenden Karstadt, neben dem für immer unfertigen hinduistischen Tempel und dem Veranstaltungsort mit dem verheißungsvollen Namen Neue Welt), auch die Kunst ihren Platz findet.
Bodybuilderinnen mit Bizeps
Das ist vor allem deswegen so freundlich zugewandt, weil die Kunst des Paint Shop allen, die tagtäglich am Verkehrsknotenpunkt Hermannplatz herumhetzen, zugänglich ist. Das Schaufenster schaut auf die Straße und auch in die Schaukästen lässt sich gut hineinblinzeln. Nur ein paar Häuser weiter baut gerade die renommierte Sammlung Wemhöner einen alten Tanzsaal zur Kulturinstitution um. Wemhöner will am Hermannplatz einen Ort für seine Sammlung schaffen, ›behutsam‹ will man mit dem Ort umgehen. Doch für Behutsamkeit ist es am Hermannplatz längst zu spät. Zu krachend prallen die Gegensätze aufeinander. Mittendrin der kleine Paint Shop, der mit sechs bis neun Ausstellungen im vergangenen Jahr ambitioniert gestartet ist. Die Betreiber finanzieren alles selbst und kommen ohne Förderung aus. Zur Berlin Art Week warten sie mit der Ausstellung ›The Beginning of Everything‹ der 1994 geborenen spanischen Künstlerin Paula Santomé auf.
In Santomés Werk geht es um nichts weniger als um eine Neuerzählung von Weiblichkeit. Dabei arbeitet sie mit Strukturen und Techniken, die man eigentlich aus der—Frauen eher weniger positiv gegenüberstehenden—Kirche kennt. Bunte Bleiglasfenster waren vor allem in der Gotik Teil von Kirchenbauten, um die Geschichten der Bibel für alle verständlich zu erzählen. Santomé eignet sich diese Technik und die zweidimensionale Art des Erzählens an. Nur geht es bei ihr nicht um Maria und Josef oder Himmel und Hölle, sondern, wie in ›Glass Goddesses‹ von 2025, um Bodybuilderinnen, die ihren Bizeps flexen und stolz den gestählten Po herausstrecken. Diese Frauen lassen sich nicht in das gesellschaftliche Narrativ einhegen, das sie noch heute kleinhält. Nachdem die Künstlerin eine der ältesten Kirchen Berlins, die Marienkirche in Mitte, die bereits im 13. Jahrhundert errichtet wurde, besichtigt hatte, drängte sich ihr die Frage auf, wie das sein kann, dass die Abbilder von Eva und der Schlange bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben und keine neuen Bilder für eine realere Form von Weiblichkeit gefunden wurden.
Zentrales Werk der Ausstellung ist eine großformatige Grafitzeichnung mit dem Titel ›Sinister Garden‹ von 2025, die, wie in einem Triptychon, drei Frauen mit langen, wallenden Haaren zeigt. Sie sind nackt und halten, ganz wie die Bibel es vorsieht, einen Apfel in der Hand. Nur fehlt hier die Weiterführung der Geschichte, in der die Frau den Sündenfall begeht. Im Gegenteil, sie reproduziert sich einfach weiter—nach der einen Frau mit dem Apfel kommt die nächste. Es geht nicht darum, die Geschichte nicht mehr zu erzählen, sondern darum, ob man die Geschichte nicht auch anders erzählen könnte—gar dringend müsste.
Außerdem werden Aluminium-Reliefs gezeigt, die durch ihre traditionelle Anmutung erst mal nicht die Bildmotive vermuten lassen, die sie zeigen. Santomé sieht das Material selbst bereits als Bedeutungsträger. In den Reliefs zeigen sich Referenzen an die berühmten Hände aus Leonardo Da Vincis ›Erschaffung Adams‹, die mittlerweile millionenfach zum Kaffeetassenmotiv geworden sind, obwohl das Bild so symbolträchtig ist. Santomé hat diese Hände, die sich nur fast an den Fingerspitzen berühren, mit Perlenarmbändern versehen, mit schmalen Fingern, die man als weiblich konnotiert lesen kann. Darum herum zeigen sich drei Frauen. Die eine telefoniert, die andere raucht mit einem Drink in der Hand genüsslich eine Zigarette und die dritte liegt auf dem Rücken, hat die Augen geschlossen und gibt sich der Entspannung oder einem Mittagsschlaf hin. Jede von ihnen tut etwas ausschließlich für sich. Sie kümmert sich um niemanden und ihre Handlungen stehen in keinem anderen Kontext als ihrem eigenen. Die Arbeit von 2024 heißt ›Grey Area‹, und vielleicht ist das der passendste Titel für so ein Bild, das sich irgendwo zwischen dem, was sein sollte, und dem, was ist, befindet. Denn eigentlich sollten Frauen diese Leben für sich leben, tun das aber immer noch viel zu selten und unter viel zu vielen strukturellen Widerständen. Das Bilduniversum, das Santomé erschafft, stellt diesen universellen Bilderkosmos, in dem man aufgewachsen, durch den das eigene Bildgedächtnis geprägt ist, auf den Kopf. Dabei geht es auch darum, dass die häusliche Sphäre für Frauen kein sicherer Ort ist, sondern einer, in dem Konflikt und Streit herrschen—und im schlimmsten Fall psychische und physische Gewalt. Das brennende Haus, das sich aus dem Relief ›Uncertain Place‹ von 2024 herausdrückt, verdeutlicht diese Dringlichkeit. Was Santomés Arbeit aber auch eindrücklich beweist, ist, dass es eine neue Bildsprache braucht, mit der Frauen, ihre Körper und ihre Geschichten kanonisiert werden können. In einem weiteren Relief wimmelt es von Schlangen. Ein Tier, das nicht nur in der christlichen Ikonografie eng mit der Frau verbunden ist, sondern auch bei den Azteken oder in Indien. In Indien symbolisiert die Schlange in vielen Traditionen den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, bei den Azteken tritt sie in Gestalt der Erdmutter auf. Der Moment, bevor Schlangen sich häuten, wird ›blaue Phase‹ genannt, und so heißt das Relief von 2023 auch ›Blue Phase‹—und bezeichnet damit den Moment, bevor sich etwas grundlegend ändern wird.
Santomés Arbeiten sprengen den kleinen Raum fast und ermöglichen gerade dadurch eine intime Auseinandersetzung mit den Motiven und ihren Bedeutungsebenen. Es ist die erste Ausstellung Santomés in Deutschland, die in Basel studiert hat und dort lebt. Und vermutlich gibt es keinen besseren Ort dafür als den Paint Shop an der Hasenheide, in den sich immer wieder Leute verirren, die mit Kunst gar nichts am Hut haben, wie Lukas Fritze, einer der Gründer, erzählt. Bei den Eröffnungen müsse man schon schauen, wer da in den Hinterhof gehe, aber die meisten freuen sich über die Kunst und das Projekt und wohl auch darüber, dass das kleine Schaufenster wieder mit Leben gefüllt ist. Man darf gespannt sein, welche Kunst die kommenden Ausstellungen zeigen werden.
›Paula Santomé: The Beginning of Everything‹, Paint Shop, 13 SEP—11 OKT 2025