Christiane Meixner: Kathrin Becker, Ihr erstes Projekt als neue künstlerische Direktorin des privat initiierten KINDL—Zentrum für zeitgenössische Kunst in Neukölln wurde wegen Corona ohne großes Tamtam eröffnet.
Kathrin Becker: Nach meinem Start im Februar hatte ich relativ wenig Zeit für die Ausstellung, die schon Ende März beginnen sollte. Erst aus der Rückschau ist mir klar geworden, wie gut die Entscheidung für die Berliner Künstlerin Isa Melsheimer war, denn ihr Werk impliziert vieles über die Themen Architektur und Kunst hinaus, das auch mir wichtig ist, feministische Aspekte beispielsweise. Außerdem war es hilfreich, mit Melsheimer als Bildhauerin gemeinsam den Raum zu erschließen. Im architektonischen Zentrum ihrer Ausstellung platzierte sie ein Walherz aus Keramik. Das gefiel mir als Metapher in Corona-Zeiten.
Nun, zur Berlin Art Week, eröffnen Sie gleich vier Ausstellungen. Ein ganz schöner Kraftakt …
Mir war schnell klar, dass ich für den Herbst einen etwas größeren Auftritt planen muss, aus dem auch hervorgeht, was ich künftig hier im Haus machen möchte. Alle vier Ausstellungen behandeln Aspekte einer kritischen Geschichtsschreibung. Da fließt Biografisches ein, das sich inzwischen durch mein gesamtes kuratorisches Leben zieht. Etwa das Interesse für Osteuropa und besonders Russland, das in den neunziger Jahren so etwas wie mein Einstieg in den Kunstbetrieb war. Hier gab es schon immer eine Perspektive auf das, was heute Inklusion und Exklusion genannt wird—die Frage etwa nach der Dominanz eines westlichen Diskurses.
Woher kommt dieses Interesse?
Ich bin im westfälischen Hagen geboren und habe als zweite Fremdsprache in der Schule Russisch gewählt. Mit 15 war ich das erste Mal in Moskau. Später, für mein Studium der Kunstgeschichte und Slawistik, bin ich für zwei Jahre nach Leningrad gegangen. Eine meiner frühen Beobachtungen war, dass zeitgenössische Kunst aus Russland berücksichtigt wird, sobald es nützlich ist.
Ein Beispiel dafür?
In den Ausstellungen hierzulande wurden gern Arbeiten gezeigt, die die Hölle des Sozialismus noch einmal besonders gut illustrieren. Das Interesse ebbte dann vielfach wieder ab, sobald die Fragen auf politischer Ebene geklärt wirkten.
Aktuell wird der Ausstellungsbereich des KINDL umgebaut. Ist das auch eine Reaktion auf Isa Melsheimers architektonische Interventionen?
Nein. Eher werden bestimmte Themen, die im Werk der Künstlerin angelegt sind—etwa Fragen nach dem Verhältnis zwischen Architektur, Mensch und Umwelt—mein Programm noch einmal bereichern.
Was ändert sich dann im Haus?
Wir werden ein neues Format etablieren, für das gerade ein weiterer Raum entsteht: der M1 VideoSpace, in dem ich künftig Einkanal-Videos zeigen möchte. Der Raum wird mit Ann Orens filmischer Arbeit ›Passage‹ eröffnet. In meiner kuratorischen Laufbahn hat mich oft gestört, wie wenig nachhaltig der Kunstbetrieb mit solchen Displays umgeht. Sie werden für ein Projekt gebaut und wieder abgerissen. Im KINDL soll sich Medienkunst dauerhaft etablieren. Das ist sicher kein Alleinstellungsmerkmal in Berlin, allerdings möchte ich die Videopräsentationen wie Ausstellungen behandeln: mit eigenen Eröffnungen und langen Laufzeiten.
Was passiert während der Berlin Art Week daneben noch?
Es gibt die ortsspezifischen Einzelpräsentationen im Kesselhaus, die schon unter meinem Vorgänger Andreas Fiedler entschleunigend lange zu sehen waren. Hier stellt im Herbst Nik Nowak aus, der sich intensiv mit historischen Narrativen und der Frage auseinandergesetzt hat, inwieweit Sound und Klang als Mittel politischer Einflussnahme und Propaganda dienen können. Seine Soloschau ›Schizo Sonics‹ wird von zwei gigantischen Kettenfahrzeugen dominiert. Als mobile Klangeinheiten beschreiben sie eine Grenzsituation—unter anderem den Radiokrieg zwischen Ost- und West-Berlin.
Wie sind Sie auf die Frage der Geschichtsschreibung gekommen?
Für mich war schnell klar, dass es eine thematische Verbindung zwischen den Ausstellungen geben soll, egal wie divers sie sonst sein mögen. Die Auseinandersetzung mit Geschichte auf Seiten der Künstler*innen spielt aktuell eine große Rolle—auch weil neue, vielfach rechte Kräfte gerade eine Umschreibung vornehmen. Das Thema ist also über den Kunstbetrieb hinaus aktuell und strahlt in den gesellschaftlichen Raum. Eine Gruppenausstellung wie ›The Invented History‹ hatte ich lange geplant, aber bislang nicht realisiert. Künstler*innen wie Aslan Goisum beschäftigen sich dezidiert mit Diskursen, die unterdrückt werden. Seine Videoarbeit thematisiert die systematische Deportation des tschetschenischen Volkes durch die sowjetische Staatsmacht seit 1945. Die Überlebenden dieser Deportationen, die er zeigt, sagen nichts und beeindrucken allein durch ihre körperliche Präsenz. Anna Dasović wiederum hat intensive Recherchen mit Blick auf die Massaker von Srebrenica angestellt.
Sie muten den Besucher*innen einiges zu.
Es gibt auch andere Arbeiten. Einen futuristischen Entwurf von Skulpturen von Yael Bartana, in der Waffen zu Fossilien geworden sind. Oder ein aus Realfilm und Animation bestehendes Video von Larissa Sansour. ›The Invented History‹ ist, das glaube ich schon, eine Ausstellung mit hoher Informationsdichte. Gleichzeitig sind da die Einzelausstellungen von Ann Oren oder Lerato Shadi mit ihren sinnlichen Beiträgen.
Wie wichtig ist es, für den ersten großen Auftritt populäre Künstler*innen zu verpflichten, um das Publikum anzuziehen? Während der Berlin Art Week konkurrieren zahlreiche Veranstaltungen um Aufmerksamkeit. Spielt das eine Rolle oder nicht?
Es wäre gelogen, wenn ich sage, dass man sich davon völlig frei machen kann. Ich denke, es gibt zwei Strategien. Zum einen kann man sich als Kurator an abgesicherten künstlerischen Positionen entlang hangeln, die vor allem bestätigend wirken. Mein Anliegen war allerdings schon immer das andere: jemanden auszustellen, dessen Arbeiten aufregend sind oder aus einem bestimmten Kontext kommen. Ich habe eher eine Entdeckermentalität, aber viele Positionen der kommenden Ausstellungen sind natürlich auch bekannt. Dennoch bin ich sicher, dass Anziehungskraft durch Themensetzung funktioniert. Dafür braucht es kein Namedropping. Gerade hier im Kiez finde ich es interessanter und naheliegender, im Hinblick auf kulturelle und biografische Hintergründe eine gewisse Diversivität ins Haus zu bringen.
KINDL—ZENTRUM FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST
Nik Nowak. Schizo Sonics
13 SEP 2020—16 MAY 2021
Lerato Shadi. Maru a Pula Is a Song of Happiness
13 SEP 2020—7 FEB 2021
Ann Oren. Passage
13 SEP 2020—21 FEB 2021
M1 VideoSpace
The Invented History
13 SEP 2020—21 FEB 2021
Eröffnung 12 SEP, 10—22 Uhr