»Wir hängen da alle mit drin—die Frage ist nur wie«

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Nadim Samman, KW Contemporary. Foto: Trevor Good
Nadim Samman, KW Contemporary. Foto: Trevor Good

Nadim Julien Samman, Kurator Digitaler Raum bei den KW Institute for Contemporary Art, über Ausstellungen im digitalen Raum, seine Pläne für die Berlin Art Week und den »Triumph der (Bild-)Schirmtypologie« im Kielwasser von COVID-19

BAW JOURNAL: Sie haben kürzlich bei den KW Institute for Contemporary Art in Berlin Ihre Arbeit als Kurator Digitaler Raum begonnen. Wie sieht das Kuratieren im digitalen Raum aus? Und wie unterscheidet es sich von der Arbeit in einem konventionelleren Ausstellungsraum?

NADIM JULIEN SAMMAN: Der digitale Raum steht nicht allein. Er umfasst das Leben im analogen oder ›realen‹ Raum. Denken Sie daran, wie eine bestimmte App zur Vermietung von Wohnungen die Struktur der Stadt verändert hat. Oder wie die Verbreitung von gezielter Werbung durch soziale Medien die demokratische Politik im Westen destabilisiert. Das heißt, die vernetzten Koordinaten dieses ›Raums‹ müssen nachgezeichnet werden, das ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche und kulturelle Orientierung (im Gegensatz zu Hysterie). Wir hängen da alle mit drin—die Frage ist nur wie. Wir brauchen dringend kritische Perspektiven. Kunstinstitutionen, die sich mit der Macht der Bilder im gesellschaftlichen Leben auseinandersetzen, müssen ein Forum bieten für widerstreitende Darstellungsformen. Und zu diesem Forum sollte eben auch die kuratorische Arbeit im digitalen Raum beitragen. Den digitalen Raum zu kuratieren bedeutet, (zeitgenössische) kulturelle Vorhaben als immer schon innerhalb der digitalen räumlichen Vermittlung befindlich zu verstehen.

 

Die Semantik des Internets scheint sich wieder einmal zu verändern—zuerst hatten wir Sites, dann Streams und jetzt Rooms. Wie sind diese Verschiebungen zu verstehen? Wie unterscheidet sich ein Online-Viewing-Room von einer konventionellen Webseite? Und glauben Sie, Online-Ausstellungen werden irgendwann traditionelle Ausstellungen ersetzen?

Digitale Analoga von materiellen Kunstwerken (oder Architekturen) mögen für den Markt nützlich sein. Aber sie sind nicht unbedingt interessant. Letztendlich ist da immer noch ein Bildschirm zwischen den Betrachter*innen und dem Originalwerk. Ein Online-Viewing-Room für Monets ›Seerosen‹ kommt mir vor wie eine Verschwendung von CO2-Emissionen. Etwas anderes sind die digitalen Kunstwerke, die es ja gibt und die man direkt im Netz erleben kann. Sicherlich, derartige Werke können unsere Erwartungen an ein digitales Erleben hinterfragen, und da gibt es zweifellos viel zu tun. Aber die muss es dann auch wert sein (über die rein technische Neuerung hinaus).
Die interessanteren neuen ›Rooms‹ sind aber Räume der Kommunikation oder Auftritte in einer gemischten Realität—wo reale und virtuelle Welten in hybriden Umgebungen/Visualisierungen zusammenkommen und ein Live-Gespräch möglich wird.
Zur Frage der Online- vs. der Offline-Ausstellungen: Das ist keine Frage von entweder/oder. Wie denn auch? Die Entwicklung geht in Richtung Konvergenz—man sollte in Schichtungen denken. Wir sollten die zeitgenössische Ausstellungshängung als etwas denken, was über ein breites Spektrum von (Medien-)Räumen installiert ist. Das ausgestellte ›Was‹ muss nicht unbedingt an ein bestimmtes Gerät oder eine bestimmte Schicht gebunden sein. Der primäre Ort einer Ausstellung kann viele Orte zugleich sein. Das muss nicht automatisch in ein Geräte-Wettrüsten führen—der effektive Einsatz von Instrumenten und eine Autorenschaft mit klarem Blick reichen vollkommen aus.

 

Während der Berlin Art Week kuratieren Sie ein Symposium mit dem Titel EC(CENTRI)CITY. Worum geht es da?

Seit 2011 organisiert die Sektion Baukunst der Akademie der Künste große Ausstellungen, die sich mit Tendenzen der zeitgenössischen europäischen Stadt auseinandersetzen. Ich wurde eingeladen, Künstler*innen in einen Dialog mit der diesjährigen Ausstellung ›urbainable—stadthaltig‹ zu bringen. Mein Beitrag umfasst eine Podiumsdiskussion, einige Podcasts und ein Film- und Videoprogramm. Das allgemeine Konzept befasst sich damit, wie neue Architektur das Denken formt. Die Leitfrage ist: »Wer ist im Bau (in der Stadt des 21. Jahrhunderts), und welche Entwürfe müssen überarbeitet werden?« Seitdem hat Corona unsere Erfahrung von Stadt erheblich durcheinandergebracht. Das Programm wurde etwas verändert, um dies miteinzubeziehen, beispielsweise durch die Aufnahme neuer Kunstwerke. Zudem hat sich auch ein Leitmotiv der Isolation ergeben.

»Corona war der Triumph der (Bild)-Schirm-Typologie—als physische Barriere, zur sozialen Vermittlung, als Biosicherheitsscreen usw.«

Zwei der Schlüsselbegriffe für die Ausstellung sind Dichte und Netzwerk. In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Und wie hat die aktuelle Corona-Pandemie unsere Vorstellung von Dichte als einem Schlüsselfaktor von Urbanität beeinflusst? Was werden Ihrer Meinung nach die Folgen sein?

Netzwerke ermöglichen Bewegung und Verbreitung. Corona ist ein perfektes Beispiel. Ohne unser globales Transportsystem gäbe es diese Pandemie ganz einfach nicht. Das Virus hat ja nicht nur eine evolutionäre Nische in der menschlichen Biologie gefunden, sondern auch in unserem Geflecht gebauter Infrastruktur. Eine Sache, die wir von dieser Krise gelernt haben, ist, dass zum Zuhause-Bleiben das Privileg gehört, dass proletarische Netzarbeiter (wie die Fahrer*innen von Lieferservices für Essen und Amazon-Mitarbeiter*innen) sich für uns bewegen. Es ist jetzt noch schwer zu sagen, wie sich das schließlich in der Stadtplanung niederschlagen wird. Aber wir können schon jetzt sagen, dass Corona der Triumph der (Bild-)Schirm-Typologie war—als physische Barriere, zur sozialen Vermittlung, als Biosicherheitsscreen usw. Blickt man in die Zukunft, so lässt sich eine höhere Dichte an Schirmen und Schutzschilden unterschiedlicher Transparenz in der städtischen Umgebung prognostizieren.

 

Welche Rolle kann in die Kunst in der Neuerfindung der europäischen Stadt spielen?

Der private Sektor eignet sich seit einiger Zeit auf immer aggressivere Art und Weise öffentlichen Raum an. Seit letztem Jahr sind die Bürgersteige in Berlin überschwemmt von Elektrorollern und Leihrädern (alle mit einer sehr kurzen Lebensdauer). Das ist nur ein offensichtliches Beispiel dieser Tendenz. Zusätzlich zu Darstellung dessen, was passiert, muss die Kunst eine konkrete Rolle bei der Verteidigung des Gemeinguts übernehmen. Aber ich würde noch weitergehen: Kunst sollte sich privaten Raum aneignen, um ihn der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich träume nicht von Pop-up-Ereignissen, sondern von Besetzung und Neuprogrammierung im eigentlichen Sinne.

 

Das Interview wurde von Dominikus Müller geführt.

AKADEMIE DER KÜNSTE
EC(centri)City— Die exzentrische Stadt
10 SEP, ganztägiges Filmprogramm ab 12 Uhr,  diskursives Programm ab 16 Uhr
urbainable—stadthaltig. Positionen zur europäischen Stadt im 21. Jahrhundert
5 SEP—22 NOV 2020

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