Peripher gesehen

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n.b.k., Aristide Antonas, The Island Interface, from the series Blooms Room, 2013-16 © Aristide Antonas

Wenn am 14 SEP die diesjährige Berlin Art Week eröffnet, so lässt sich am Programm auch ablesen, dass sich etwas verschiebt. Über eine Bewegung weg vom Zentrum—und hinein in die Peripherie

Jahrelang, ach was, jahrzehntelang hieß es immer: Berlin, das ist eine Weltstadt. Zumindest eine im Werden. Und eine Weltstadt, die zieht natürlich die Leute an, wenngleich aus reichlich unterschiedlichen Gründen. Und so kamen sie nach 1989 erst aus der schwäbischen Provinz, dann aus dem via easyJet und anderen Billigfluglinien angeschlossenen europäischen Ausland. Die, die es sich leisten konnten, flohen in den Nuller Jahren aus dem von 9/11 traumatisierten New York, und die, die mussten, in den Zehnern aus Syrien und in den Zwanzigern schließlich aus der Ukraine.

Natürlich ist das stark vereinfacht und mit eher groben Pinselstrichen gezeichnet. Aber im Großen und Ganzen erzählt man sich die Geschichte von der Anziehungskraft dieser Stadt halt so, oder etwa nicht? Berlin, ein Magnet—die vermeintlich einzig wahre Großstadt Deutschlands, seit fast 25 Jahren nun auch dessen Hauptstadt, politisch längst, kulturell sowieso. Und in Sachen Kunst natürlich gleich dreimal.

Und doch war jahrelang, ach was, jahrzehntelang, auch immer wieder die gegenläufige Diagnose zu vernehmen: Berlin, das sei doch ein zu groß geratenes Provinznest, eine sprichwörtliche »Parvenupolis«, letztlich vielleicht nicht einmal eine Großstadt, sondern viel eher eine »große Stadt«, wie es der Autor Jens Bisky im Untertitel seiner monumentalen Stadtbiografie treffend und nicht ohne liebevolle Ironie nennt. Was beide Diagnosen aller Gegenläufigkeit zum Trotz dennoch eint, das ist die Fokussierung auf das geografische Zentrum und das Prinzip der Zentralität als ordnende Idee.

»Die, die früher hineinströmten, scheint es nun immer öfter hinauszuziehen.«

Georg Kolbe Museum, Mona Hatoum, Remains of the Day © Mona Hatoum

Begünstigt wurde die Strahlkraft dieser Stadt nicht zuletzt durch den Umstand, dass Berlin wie eine herausgehobene Insel im märkischen Sand liegt, scheinbar ohne Hinterland auskommt und aus historischen Gründen mit einem eher dünnen Speckgürtel versehen ist. Nichts schien von Berlin-Mitte—allein dieser Name!—weiter weg als die Dörfer und Kleinstädte Brandenburgs. Oder auch nur ein Berliner Stadtteil außerhalb des berühmt-berüchtigten S-Bahnrings. Stuttgart, London, New York—all das wirkte viel näher dran (oder sollte es zumindest).

Doch inzwischen hat sich etwas verschoben, und zwar radikaler und schneller, als man das für möglich gehalten hat. Angetrieben von der Immobilienspekulation, von steigenden Preisen und einer zunehmenden Wohnungsnot, beschleunigt von der Corona-Pandemie und den Möglichkeiten des sogenannten Home Office, bekräftigt schließlich von den plötzlich sehr realen Effekten des Klimawandels, der die steinernen Innenbezirke mitteleuropäischer Städte zunehmend in schier unerträgliche Glutöfen verwandelt, ist ein Umdenken in vollem Gange.

Kurz: Die, die früher hineinströmten, scheint es nun immer öfter hinauszuziehen. Und auch hier sind die Gründe ebenso vielfältig wie die Erscheinungsformen divers: von der romantisierten Landidylle im dünn besiedelten Umland für die, die es sich (noch) leisten können, bis zur Verdrängung an die Peripherie für die, die das Geld für die Mitte nicht (mehr) aufbringen können. Zusammengenommen aber gilt: Die zentrifugalen Kräfte sind nicht mehr nur gesellschaftlich, sondern längst auch geografisch längst stärker als die zentripetalen.

»Künstler*innen ziehen aufs Land, um dort ihre Hände in die Äcker zu stecken, Institutionen und andere Akteur*innen verschlägt es an die Peripherie.«

Natürlich hat diese Bewegung auch den für Berlin so wichtigen Kunst- und Kultursektor erfasst. Künstler*innen ziehen aufs Land, um dort ihre Hände in die Äcker zu stecken, Institutionen und andere Akteur*innen verschlägt es an die Peripherie. Das wird auch beim Blick auf das Programm der diesjährigen Berlin Art Week deutlich.

Ein paar Beispiele: Neben der schon seit einiger Zeit in Lichtenberg existierenden Fahrbereitschaft des Sammler*innenehepaars Haubrok haben sich etwa am anderen Ende der Stadt die Wilhelm Hallen in Reinickendorf etabliert. Dort hat sich der Galerist Mehdi Chouakri inzwischen fest eingemietet—und auch dieses Jahr werden dort während der Berlin Art Week einige Galerien gemeinsam Ausstellungen veranstalten. Der nGbK, die ihre angestammten Räumlichkeiten in der zentralen Oranienstraße in Kreuzberg nach jahrelangen Protesten nun doch verloren hat, bleibt aktuell als fester Raum die seit einer Weile betriebene station urbaner kulturen in Hellersdorf weit im Osten der Stadt. Und mit Anna Gritz übernimmt eine der interessantesten Kurator*innen der Stadt das altehrwürdige Haus am Waldsee tief im Südwesten. Der BAW Garten schließlich, der dieses Jahr in seine zweite Runde geht, zieht dieses Jahr in die Uferhallen nach Wedding, einen der wichtigen Atelierstandorte der Stadt, dessen Zukunft aufgrund aktueller Bebauungspläne jedoch unklar ist.

»Welche neuen oder anderen Anliegen und Themen ergeben sich, wenn man eine eher ›randständige‹ Perspektive einnimmt?«

Im Journal der Berlin Art Week wollen wir Ihnen während der nächsten Wochen die Künstler*innen, Ausstellungen und Veranstaltungen dieser kommenden Ausgabe vorstellen. Natürlich lässt sich längst nicht alles aus dem Blickwinkel der oben skizzierten Dynamiken beschreiben, aber hier und da wollen wir doch versuchen, in Essays und Interviews entsprechende Fragen aufzugreifen. Wie gestalten sich die Arbeitsbedingungen in der Peripherie, wie produktiv ist die Reibung mit dem Umfeld? Wie verschieben sich die Prioritäten? Und welche unter Umständen neuen oder anderen Anliegen und Themen ergeben sich, wenn man eine eher ›randständige‹ Perspektive einnimmt? Aber auch: Welche Förderinstrumente und infrastrukturellen Rahmenbedingungen braucht es, damit auch die Innenstadt ein Ort für Kunst und Kultur bleibt? Denn, um am Ende noch einmal den etwas gröberen Pinsel auszupacken: Wie sich das Zentrum Berlins in Zeiten fortschreitender De-Globalisierung und einem erhöhten Augenmerk auf das unmittelbare Umfeld nicht nur selbst begreift, sondern auch mit seiner Peripherie und dem Umland in Verbindung setzt, wie Chancen dabei (hoffentlich) genutzt und Fallstricke (idealerweise) vermieden werden, wird eine der zentralen Fragen der kommenden Jahre sein. Ach was, Jahrzehnte.