BAW JOURNAL: Für die Ausstellung ›Down to Earth‹ der Immersion/Berliner Festspiele im Gropius Bau setzt sich im weitesten Sinne mit dem Themenkomplex Klima und Nachhaltigkeit auseinander. Sie haben dafür in zwei Räumen eine ›Ausstellung in der Ausstellung‹ zum Ozean kuratiert. Inwiefern dient der Ozean als Bild für ein anderes Denken, eine andere Perspektive? Und welches Potenzial hält es bereit?
STEFANIE HESSLER: Als zumeist landbewohnende Wesen sind unsere Füße auf der Erde verankert, während der Ozean so lange als das Fremde, als ›dort draußen‹ gilt, bis er dein Zuhause überflutet. Aufgrund ansteigender Temperaturen und Meeresspiegel tritt dies immer häufiger ein, und weder Kiribati noch Venedig oder Miami bleiben verschont. Der Ozean ist entscheidend für das Klimasystem der Erde, birgt aber auch entscheidendes philosophisches Potenzial. Wenn die Erde mit Ausnahme von Erdbeben usw. als größtenteils stabil und unbeweglich angesehen wird, ist der Ozean besser geeignet, um den aktuellen, kontinuierlichen Moment der Unsicherheit zu denken. Meerwasser ist immer im Fluss, es kann nicht so einfach gemessen und erfasst werden wie Land und erfordert Anpassung und Reaktionsfähigkeit (»response-ability« in den Worten von Donna Haraway und Karen Barad). Der Ozean überschreitet Grenzen, die das westliche Denken gerne festlegt zwischen Kategorien wie innen und außen, zwischen ›uns‹ und ›Anderen‹. Das Meer verbindet und nährt, wenn es gut behandelt wird. Wird es aber vernachlässigt, kann es auch zerstören.
Im Text im Programmheft schreiben Sie, dass der Ozean in westlichen Systemen als ›das Andere‹ verankert sei. Wie ist da zu verstehen? Und wie ließe sich ein anderes Verhältnis denken?
Der Ozean bildete den aquatischen Untergrund für Erkundungen, um weit entfernte Orte—aus der Sicht der Europäer*innen zumindest sind sie weit entfernt—zu erreichen und zu kolonisieren. Diese Vorstellung von Entfernung, beispielsweise von den Inseln im Pazifik, die oft als abgelegene kleine Inselstaaten dargestellt werden, besteht bis heute fort. Der fidschianische Denker Epeli Hau’ofa sprach sich gegen diese Idee aus und bemühte sich, die Inseln als große Ozeannationen zu betrachten. Der derzeitige amerikanische Präsident begründete seine Weigerung, Hilfe nach Puerto Rico zu schicken, nachdem der dreifache Hurrikan 2017 das Land verwüstet hatte, damit, dass die Insel zu weit entfernt sei. Dies hat das amerikanische Militär jedoch nicht daran gehindert, die puerto-ricanische Insel Vieques jahrelang für militärische Übungen zu nutzen. Elizabeth DeLoughrey schreibt prägnant darüber. Dies sind nur einige Beispiele. Ältere Karten, wie Ortelius’ Kartografien aus dem 16. Jahrhundert, stellen den Ozean als von Seemonstern bevölkert dar. Sie senden eine Warnung und wecken gleichzeitig die Neugier. Der Ozean ist seit langem der bedrohliche Leviathan für westliche Kulturen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir (meistens ein westliches »wir«) unsere Beziehung zum Ozean und zum gesamten Planeten überdenken und neu fühlen müssen. Wie die Métis-Denkerin Zoe Todd schreibt, ist es hauptsächlich der westliche Anthropos, der das Anthropozän zu verantworten hat. Indem wir den Ozean nicht als das ferne, gefährliche oder ausbeutbare Andere betrachten, können wir auf ein planetarisches Verständnis hinarbeiten, nicht »in« der Welt zu sein, sondern »von« der Welt mit ihrem Land und ihren Gewässern. In meinem Buch ›Prospecting Ocean‹ (2019) habe ich diese Verbindungen ausführlicher verhandelt.
Können Sie uns das eine oder andere Beispiel aus Ihrer Ausstellung für einen künstlerischen Umgang mit dem Ozean nennen?
Die Künstlerin Miriam Simun hat ein poetisches Trainingsprogramm entwickelt, mit dem Menschen verschiedene Atemtechniken erlernen können, die es ihnen ermöglichen, länger unter Wasser zu bleiben. Sie arbeitet seit vielen Jahren daran, zusammen mit Tänzer*innen Workshops zu entwickeln, und nimmt diese Idee sehr ernst. Letztendlich schlägt sie vor, dass wir zu Kopffüßlern werden oder ihnen zumindest näherkommen sollten. Die Arbeit ist eine poetische, spekulative Herangehensweise an den Transhumanismus aus einer intersektionalen feministischen Perspektive. Anstelle des Macho-Transhumanismus eines Elon Musk betrachtet Simun verkörperte Formen des Wissens als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Zukunft zwischen Arten. Der Meeresgeruch von Sissel Tolaas macht dagegen ein sensorisches Angebot an die Ausstellungsbesucher*innen. Die Künstlerin hat Geruchsmoleküle in der Nähe des Ozeans gesammelt, synthetisiert und in den Ausstellungsraum gebracht. Der Geruch wird nach dem Gezeitenkalender von Warnemünde im Raum verbreitet. Er ist auch ein Archiv der Moleküle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gefunden wurden, ein olfaktorisches Porträt eines Ortes. Geruch ist für mich interessant, weil er im selben Teil des Gehirns registriert wird, in dem Erinnerungen und Emotionen verarbeitet werden. Tolaas’ Arbeit ist sowohl methodisch wissenschaftlich als auch sensorisch evokativ.
Immer wieder ist im Kunstdiskurs der letzten Jahre von der Infrastruktur die Rede. Gibt es Ihrer Meinung eine Verschiebung von der ›Institution‹ zur ›Infrastruktur‹? Und wenn ja, wie ließe sich diese Verschiebung beschreiben? Was hieße denn infrastrukturelles Denken und Handeln im Kunstbetrieb konkret?
Denker*innen wie Keller Easterling argumentieren, dass Infrastruktur immer wichtiger wird und dass sie nicht nur aus den uns umgebenden physischen Elementen besteht, sondern alles, was den Fluss von Waren ermöglicht umfasst, auch Informationen. Innerhalb der Kunst beobachte ich eine erhöhte Aufmerksamkeit für Strukturen, unter anderem Machtstrukturen, und Versuche, diese für mehr Gerechtigkeit zu ändern. Dies ist absolut wichtig und besonders dringend in diesem Moment planetarischer Umwälzungen von Klima, Gesundheit und andauernder sozialer Ungerechtigkeiten. Eine Institution ist immer eine (Infra-)Struktur, und die derzeitige Hinwendung zu diesen Strukturen ist dringend notwendig, um gerechtere und bessere Zukünfte zu schaffen.
Welche spezifischen Perspektiven kann Kunst auf Nachhaltigkeit eröffnen? Und: Wie kann der Kunstbetrieb selbst nachhaltiger werden?
Kunst kann Perspektiven verändern. Kunst kann uns dazu bringen, Dinge anders zu denken und zu fühlen. Sie kann entweder neue Wege vorschlagen oder neue Gedanken hervorrufen und vergessene Ideen wiederentdecken. Ich bezweifle, dass prometheische technologische Lösungen einen Ausweg aus der tiefen Strukturkrise zeigen können, die seit langem besteht—eine zusammengesetzte Krise aus Klima, Gesundheit und sozialer Ungerechtigkeit. Kunst ist nicht die Lösung, aber sie kann ein Teil davon sein. Daher ist es wichtig, auch die Funktionsweise des Kunstsystems zu überdenken. Der Rahmen, in dem wir diese Themen verhandeln, ist nicht von den Themen selbst getrennt.
Die Fragen stellte Dominikus Müller.
GROPIUS BAU
Down to Earth. Klima Kunst Diskurs unplugged
aus der Programmreihe Immersion
Finnisage-Woche 9—13 SEP 2020
Mi—Sa 10—21 Uhr, So 10—19 Uhr