Libertäre glauben: Unsere Entscheidungen werden nicht durch das deterministische Wesen der Welt eingeschränkt. Es gibt einen freien Willen. Kompatibilist*innen glauben: Es spielt keine Rolle, ob unsere Entscheidungen durch das deterministische Wesen der Welt eingeschränkt sind, solange es unsere Entscheidungen sind und sie dem entsprechen, was wir wollen. Es gibt einen freien Willen. Überzeugte Determinist*innen glauben: Unsere Entscheidungen werden vom deterministischen Wesen ›der Welt‹ eingeschränkt. Es gibt keinen freien Willen. Neurowissenschaftler*innen glauben: Unsere Entscheidungen werden vom deterministischen Wesen unseres ›Gehirns‹ eingeschränkt. Es gibt keinen freien Willen.
Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen, Psycholog*innen und Denker*innen haben sich also alle mit dieser einen Frage auseinandergesetzt: Haben wir einen freien Willen? Wie diese Frage beantwortet wird, wird zur Definition und zum Verständnis der Regeln des Universums beitragen, wird diese logisch fixieren und uns theoretisch Werkzeuge an die Hand geben, um Vorhersagen treffen oder, wie in Science-Fiction-Szenarien, unsere Gedanken lesen zu können. Diese Frage erscheint bisweilen überwältigend komplex—und indem die Neurowissenschaft den Kontext vereinfacht, ist sie in der Lage, spezifische Fragen zur Entscheidungsfindung zu stellen. Da es verschiedene Arten von Entscheidungen gibt, gibt es auch verschiedene Erfahrungen des freien Willens. Professor John-Dylan Haynes, Neurowissenschaftler und Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging an der Charité Berlin, erforscht diese Fragen. Seine Experimente belegen, dass das Hirn in Entscheidungssituationen, in denen keine Verantwortung übernommen werden muss, bereits bis zu sieben Sekunden vor dem Punkt aktiv ist, an dem eine Entscheidung tatsächlich bewusst getroffen wird.
Wenn sich aber die Entscheidungen eines Individuums vorhersagen lassen, wie sieht es mit dann mit unserem kollektiven Verhalten aus? Kann beim Zusammentreffen eines Netzwerks von Akteur*innen mit vorherbestimmten Verhaltensweisen so etwas wie Ordnung oder Komplexität entstehen?
Unser individuelles und kollektives Bewusstsein stattet uns mit Handlungsfähigkeit und Aufmerksamkeit aus. Aber welcher Teil ist für all die Entscheidungen verantwortlich? Unser Gehirn? Unser Verstand? Die Roboter in unserer Installation ›PushMi PullYu‹ repräsentieren das Individuum ebenso wie das Kollektiv, aber auch den Geist und den Körper. Sie schwärmen aus, treffen Entscheidungen, bewegen sich innerhalb festgelegter Grenzen, sind Einflüssen von außen ausgesetzt und interagieren miteinander. Ihre Wege basieren auf willkürlichen menschlichen Entscheidungen und projizieren für einen Moment ein Bild kollektiver Gedanken an die Wand. Je nach Position repräsentiert ›PushMi PullYu‹ zwei voneinander unterschiedene Universen: ein Universum, in dem die Zukunft gekrümmt ist und das ständig für den freien Willen kämpft; oder ein Universum, das die Gegenwart mittels vergangener Entscheidungen in einer deterministischen Simulation verändert. Wer zieht also? Und wer schiebt?
SCHERING STIFTUNG
Hyphen-Labs: PushMi PullYu
12 SEP—23 NOV 2020
Eröffnung 11 SEP, 12—20 Uhr