Theresa Weber

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Theresa Weber

Édouard Glissant und die chronische Nostalgie nach einem anderen Ort—Theresa Weber erzählt von ihrem Arbeitsalltag, kommenden Projekten und postkolonialem Diskurs in ihrer künstlerischen Praxis.

Woran arbeiten Sie gerade?
Momentan arbeite ich an mehreren Projekten, die im Herbst anstehen. Meine Einzelausstellung ›Alle Menschen werden Brüder‹ im Projektraum Neun Kelche zur Berlin Art Week beinhaltet neue Bildcollagen, eine Tapetenarbeit und eine Installation aus Kostümobjekten. Zwei der Kostüme werden zu einer Performance am 14. September von Tänzerinnen getragen. Die Performance ist Teil einer laufenden Kollaboration mit dem Klangkünstler Nathanael Amadou Kliebhan. In dieser Ausstellung geht es vor allem um die Idee, dass Ludwig van Beethoven bi-racial war und verhandelt dementsprechend mögliche verlorene afrodeutsche Geschichte, ›whitewashing‹ in westlicher Geschichtsschreibung, und auch die Idee des ›white passing‹. Meine Titel beziehen sich hier auf unterschiedliche Beethoven Sonaten. Außerdem eröffnet am gleichen Tag, dem 13. September, eine spannende Gruppenausstellung bei SAVVY Contemporary, für die ich ein Wandarrangement und eine hängende Installation entwickle. Ich bin dieses Jahr Teil der Dekoloniale Residency in Berlin und erarbeite hierfür eine großformatige ortsspezifische Textilarbeit, die in der Nikolaikirche sein wird. Sie beschäftigt sich u.A. mit der kolonialen Geschichte des Indigoblaus und der Textilindustrie. Es wird zusätzlich eine kleinere Arbeit in dem Dekoloniale-Projektraum in der Wilhelmstraße geben, der sich am Ort der Berliner Konferenz von 1884 befindet, wo große Teile des afrikanischen Kontinents unter Otto von Bismarck eingeteilt wurden. Die Dekoloniale-Ausstellungen werden am 14. November eröffnet und ich freue mich auf die Produktionsphase im Residency-Atelier des Gropius Baus. Parallel produziere ich momentan die Installation ›Fruits of Hope‹ für einen Korridor im Somerset House in London, wo diesen Oktober die ›1-54 Contemporary African Art Fair‹ stattfindet. Das mache ich in Zusammenarbeit mit October Gallery London.

Haben Sie ein tägliches Ritual?
Ich mache mir jeden Morgen als Erstes einen Tee. Dann setzte ich mich an meine Mails und erledige alles Administrative, um für den Rest des Tages einen freien Kopf im Atelier zu haben. Das Fitnessstudio oder Yoga an einigen Abenden ist mir als Ausgleich auch sehr wichtig. Jeder Tag ist anders, abhängig davon, ob Assistenz im Atelier ist und was für Arbeiten anfallen, und oft gibt es längere Phasen, in denen ich verreist bin. Ich baue aber immer mal wieder ein paar Achtsamkeitsübungen in den Tag ein und diese kleinen Momente, die ich mir nehme, um z.B. einfach einen Tee zu trinken, helfen mir zum Innehalten sehr.

Was hören Sie beim Arbeiten?
Ich habe beim Arbeiten unterschiedliche Modi, die ich durchlaufe. Für meine Bildcollagen z.B. bin ich sehr ruhig und fokussiert, es ist fast wie ein Trancezustand, zu dem ich meistens Meditationsmusik höre. Für die Textilarbeiten jedoch habe ich meistens Assistenz, kann mich auch gerne dabei unterhalten und höre Upbeat Musik wie Rap, Soca, Grime oder Dancehall. Und dann gibt es viele Phasen, in denen ich plane, collagiere, baue und ruhigere Tracks höre, wie z.B. von Billie Holiday, Tracy Chapman, außerdem viel Lovers Rock, Roots etc. Podcasts höre ich gerne vor oder nach dem Arbeiten, da sie mich zu sehr ablenken würden.

Welches Buch verschenken Sie am liebsten?
Ich verschenke am liebsten ›Kultur und Identität—Ansätze zu einer Poetik der Vielheit‹ von Édouard Glissant. Dieses Essayband ist nicht lang, aber trotzdem ist es sehr dicht und potent, und beinhaltet viele Nuancen, über die er in seinen größeren Werken schreibt. Außerdem steht es im Verhältnis zu vielen anderen Denker*innen der Black und Caribbean Studies aus den älteren Generationen und aus dem Zeitgenössischen. Ich habe es selbst geschenkt bekommen und es hat mir sowohl persönlich, als auch im Prozess meiner Arbeit sehr geholfen, um mich als Teil der karibischen Diaspora und als deutsche Künstlerin immer mehr zu verstehen. Als Essay ist es sehr zugänglich, zumal es diese deutsche Übersetzung gibt.

Für mich war es ein Türöffner in die lange Tradition postkolonialer Philosophien, die Jahrhunderte weit zurückreicht und viel mehr zitiert werden sollte. Glissant hat z.B. in Paris mit Frantz Fanon studiert, Léopold Senghor getroffen und von Aimé Césaire gelernt. Sie sind die gleiche Generation wie Sylvia Wynter, die als einflussreiche jamaikanische Philosophin in der Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Alle bauen auf W.E.B. DuBois auf und bringen dessen Ideen in die nächste Generation.

Glissant nutzt Poesie um aus einer kolonialen Sprache resistente Neuerfindungen zu produzieren und Symbole aus der Natur, wie z.B. das Rhizom als dynamisches Wurzelnetzwerk und Landschaften, wie z.B. das Archipel als karibische Insellandschaft, um Dynamiken des diasporischen Lebens zu beschreiben. Er hat den Begriff der ›Kreolisierung‹ geprägt. Diese visuelle Art zu denken beeinflusst mich im Bezug auf die Symbolik und Linguistik in meinen Arbeiten sehr und das möchte ich mit anderen teilen.

Welches Kunstwerk hätten Sie gern bei sich zu Hause?
Dieses Jahr habe ich in der Hayward Gallery in London die unglaublich starke Ausstellung von Tavares Strachan gesehen. Er hat eine Reihe von Universums-Bildern die ich sehr liebe, da ich mich auch viel auf Kosmologie und Unendlichkeit beziehe. Ich glaube eines der Bilder heißt ›Magnificent Darkness‹. Eine solche Arbeit hätte ich unglaublich gerne zuhause.

Ihr Lieblingsausstellungsort in Berlin?  
Der Hamburger Bahnhof ist schon seit meiner Kindheit mein Lieblingsausstellungsort in Berlin. Ich habe mir schon immer gedacht, dass ich dort gerne einmal ausstellen würde.

Auf welches Accessoire oder welchen Gegenstand können Sie nicht verzichten? 
Es gibt ein kleines aber extrem wichtiges Tool in meinem Studio, das mich 2021 im Prozess der Bildcollagen sehr weit vorangebracht hat und das man nicht so leicht bekommt. Es ist ein kleiner Öffner für meine Silikon- und Acrylpastentuben, den ich am Tag wahrscheinlich zwanzigmal in der Hand habe. Er schneidet die Tuben schnell und sauber auf und ich setzte dann den Pressaufsatz auf. Die Firma, bei der ich nachhaltigeres Silikon kaufe, hatte diese Aufsätze früher im Sortiment und mein Lieferant hat mir zwei seiner letzten Exemplare gegeben, auf die ich sehr gut aufpasse und die immer einen Spezialplatz an meiner Tool-Wand erhalten.

Was treibt Sie an?
Ich denke was mich im Inneren antreibt ist eine gewisse chronische Nostalgie nach einem anderen Ort, der wahrscheinlich nicht existiert. In Deutschland aufgewachsen, dachte ich als Kind immer es gibt noch einen anderen Ort, an dem ich mich wahrscheinlich mehr zuhause fühle. Auf eine Art habe ich das in London gefunden und inzwischen verstanden, dass ich darauf angewiesen bin das Gefühl von Zuhause aus mir selbst herauszuholen. Ich bin also auf der optimistischen Suche einen unfixierten Ort zu kreieren, der Raum schafft, in dem ich und Gleichgesinnte mehr Platz haben, um in ihren Nuancen und Komplexitäten zu existieren, der Strukturen für eine fluide Art zu leben schafft und gegebene Machthierarchien auflöst.

Ich denke außerdem eine künstlerische Arbeit ist das Produkt eines künstlerischen Stammbaums, eines sozialen Netzwerks und basiert auf einem Supportsystem, und nicht nur auf einem losgelösten Individuum. Daher ist es auch das Wissen über die Existenz von Künstler*innen die mir den Weg ebnen, was mich antreibt. Ein paar Künstler*innen die ich verfolge, die mich antreiben und inspirieren sind z.B. Hew Locke, Christina Quarles, Jack Whitten, Firelei Báez, Nick Cave, Wangechi Mutu, Tavares Strachan, Ellen Gallagher und ein paar andere. Es sind außerdem Gespräche mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, mit Freund*innen; es ist Literatur und es sind Filme, und Ausstellungen, durch die ich mich immer als Teil eines größeren Ganzen verstehen kann. Man könnte es als ein Gefühl von Gemeinschaft und produktiver Sehnsucht bezeichnen, aus dem heraus ich arbeite. Ich finde die Vorstellung großartig, dass ich als Künstlerin so frei sein kann wie es geht, ein Leben lang weitermachen kann und bestenfalls immer besser werde.

Wen würden Sie gerne einmal kennenlernen?
Momentan würde ich sehr gerne Firelei Báez kennenlernen. Eine großartige karibische Künstlerin, deren Ausstellung ich diesen Sommer in der South London Gallery gesehen habe und von der ich zutiefst berührt war. In ihren Interviews hat sie eine sehr warme Energie und es wäre toll, sich mit ihr auszutauschen.

Ich würde natürlich gerne ein paar weitere der oben genannten Künstler*innen kennenlernen. Anfang des Jahres hatte ich das Glück bei einer Preview für die Ausstellung ›Entangled Pasts‹ in der Royal Academy Tavares Strachan zu treffen. Außerdem hatte ich das Glück in Düsseldorf bei Ellen Gallagher zu studieren, sie hat mich als eine Art Mentorin sehr beeinflusst.

Worauf freuen Sie sich nach getaner Arbeit?
Die letzte Eröffnung dieser intensiven Arbeitsphase ist im November und ich freue mich sehr, kurz darauf nach Jamaika zu fliegen. Dort möchte ich wieder mehr Langsamkeit in mein Leben einladen, einfach nur existieren, lesen und etwas Zeit mit Familie verbringen. Ich versuche mir nach getaner Arbeit immer wieder freie Inseln zu schaffen, in denen ich Abstand bekomme und mich erholen kann.

 

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