Als im Herbst 2005 ein verheerender Hurrikan über Guatemala hinwegfegte, dachte die Künstlerin Vivian Suter zunächst, ein Großteil ihres Werks sei unwiederbringlich verloren. Schlammmassen hatten sich durch das Atelier und Lager gewälzt und nahezu alles unter sich begraben. Es dauerte einige Zeit, bis die Malerin die Räume überhaupt wieder betreten und mit den Aufräumarbeiten beginnen konnte. Nach und nach erkannte Suter aber auch das versteckte Geschenk, das mit der Zerstörung gekommen war. Unter der Schlammkruste waren die Bilder noch da. Nur anders. »Plötzlich hatten die Gemälde ein anderes Leben bekommen«, [1] erinnert sich die Malerin in einem Interview.
Die Künstlerin akzeptierte schließlich die Einflüsse der Witterung. Ihr Werk nahm eine neue Richtung. Seither produziert sie ihre Bilder in und mit der Natur. Die Kunst entsteht ganz organisch im Dialog mit der Umgebung. Suter bringt nicht nur Farbe auf ihre Leinwände auf, sondern setzt diese auf beiläufige Art und Weise den Naturelementen aus: Regen, Schlamm, Blätter und Insekten hinterlassen Spuren. Mitunter lässt sie Avocados und Mangos von den Bäumen ihres Anwesens auf die Leinwände fallen.
Geboren wurde Suter 1949 in Buenos Aires. Anfang der Sechziger zog die Familie nach Basel. In der Schweiz besucht sie Ende der Sechziger die Kunstschule und studiert Malerei. 1971 hat Suter eine erste Einzelausstellung in der Basler Galerie Stampa und Anfang der Achtziger präsentiert sie der Kurator Jean-Christophe Ammann in der Basler Kunsthalle in einer Gruppenausstellung als sogenannte ›Emerging Artist‹—als Künstlerin auf dem Weg nach oben.
Doch der Kunstrummel ist nicht Suters Sache. Statt die Karriereleiter zu erklimmen, macht sie sich auf die Reise. Während eines Mittelamerika-Trips 1983 kommt sie durch das Städtchen Panajachel am Lago de Atitlán im Südwesten Guatemalas. Am Südufer des Sees liegen die drei Vulkane Atitlán, San Pedro und Tolimán. Die Landschaft ist magisch. Der Forschungsreisende Alexander von Humboldt soll den Atitlán einst »den schönsten See der Welt« genannt haben. An den grünen Ufern ringsum werden Kaffee, Avocados, Papayas angebaut. Suter entscheidet sich zu bleiben und siedelt ihr Atelier auf dem Gelände einer ehemaligen Kaffeeplantage an. Eine Arbeit in relativer Abgeschiedenheit beginnt. Sie dauert über drei Jahrzehnte an. Später zieht auch ihre Mutter, die ursprünglich in Wien geborene und vor den Nationalsozialist*innen nach Argentinien geflohene Künstlerin Elisabeth Wild aus Basel nach Panajachel. Bis zum Tod von Wild im Februar 2020 arbeiten beide Frauen in direkter Nachbarschaft an ihrem jeweiligen Werk.
In einer berührenden halbstündigen Künstler-Doku mit dem Titel ›Vivian’s Garden‹ den die britische Malerin und Filmemacherin Rosalind Nashashibi 2017 in und um das Atelier von Suter drehte, sieht man, wie Leinwände durch den tropischen Garten der Künstlerin getragen werden. Wie eine seltene Spezies tauchen sie aus dem Unterholz auf, werden kurz von der Sonne berührt und verschwinden wieder in dichtem Schatten. Gedreht wurde der Film anlässlich von Suters documenta-Teilnahme 2017. Der d14-Kurator Adam Szymczyk hatte ein paar Jahre zuvor bei Recherchen alte Unterlagen in den Archiven der Kunsthalle Basel entdeckt, die Künstlerin schließlich in Guatemala aufgespürt und sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Athen und Kassel eingeladen.
›Bonzo’s Dream‹ hat Suter ihre Berliner Schau genannt. Vielleicht ist es ein Zufall, aber einer von Suters Hunden trägt den Namen Bonzo. Der Hund habe »Ähnlichkeit mit einem Schäferhund—nur dass er etwa doppelt so groß ist«,[2] schrieb ein Reporter, der die Künstlerin um 2017 in ihrem Atelier besuchte. Wovon aber träumen Hunde? Träumen sie in Farben und Mustern? Lässt sich abstrakte Kunst aus der Sicht von Hunden denken? Und wie sähe sie aus? Sowieso scheint in Suters Kunst alles zu fließen: Nichtgegenständliches und Andeutungen von Pflanzenschatten und Tierformen gehen ineinander über. Wie in der blauen Stunde wird alles schemenhafter, Kontraste treten in den Hintergrund. Der Blick wirkt nach innen gerichtet. Dass Naturzugewandtheit dabei auch eine Art von Weltabgewandtheit mit sich bringen kann, wird deutlich, wenn man bedenkt, in welchem sozialen und politischen Kontext diese Bilder eigentlich entstehen: Guatemala wird seit Anfang des Jahres von einem rechtskonservativen Präsidenten regiert. Seit Jahren hat das Land mit Armut, Bandengewalt und Korruption zu kämpfen.
Ihren Bildern selbst gibt Suter keine Titel und datiert sie nicht. Stets heißt es in den Bildunterschriften ›Untitled, Undated‹. In eine offensichtliche chronologische Ordnung lassen sie sich also nicht bringen. Dass Suter auch auf Rahmen verzichtet, lässt die Präsentation zudem freier wirken. Ein wenig scheint es, als verlängerte sich der Produktionskontext in den Ausstellungsraum hinein—was natürlich auch schon wieder eine Form von Fiktion oder Traum ist. Womöglich kennen diese Bilder kein Ende. Manchmal liegen Leinwände auf dem Museumsfußboden, mal überlappen sie sich an der Wand oder hängen dicht beieinander wie akkurat geordnete Wäschestücke auf einem Wäschetrocknergestell. Während der documenta 14 in Athen hingen Suters Bilder in einem offenen, luftigen Pavillon in der Nähe der Akropolis und bewegten sich leicht im Wind. Dort in Athen entdeckte auch Lisa Marei Schmidt Suters Werk. Seitdem plante die Direktorin des Berliner Brücke-Museums die erste institutionelle Ausstellung mit Suters Bildern in Deutschland.
Es wirkt wie eine glückliche Fügung, dass das Brücke-Museum am östlichen Rand des Berliner Grunewalds über einen weitläufigen Garten verfügt. Auch für die Brücke-Künstler um Karl Schmidt-Rottluff, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner, denen das Museum in Dahlem gewidmet ist, war das Malen in der Natur ein zentrales Motiv. Die Verbindung von Kunst und Natur wurde den Expressionisten darüber hinaus zum Lebenskonzept, das auch nach der Auflösung der Brücke-Gruppe seine Gültigkeit bewahrte. Bilder wie Kirchners ›Stilleben mit Fruchtschale‹ aus dem Jahr 1914 oder der um 1912/13 entstandene ›Blick in einen Garten‹ von Franz Nölken werden in der Schau zusammen mit Suters Bildern zu sehen sein. Die Auswahl aus der Sammlung des Museums traf Elisabeth Wild, die Mutter der Künstlerin, von der ebenfalls eine Reihe kleinformatiger Collagen gezeigt werden, noch vor ihrem Tod. Ähnlich wie Kirchner und Co. um 1900 wollte auch Vivian Suter in den 1980er Jahren weg von der Kunstwelt und ihren rigiden Hierarchien. Sie machte sich auf die Suche und fand am Lago de Atitlán einen Ort, um in Ruhe zu malen. Aber wie das eben so ist: Die Kunstwelt liebt ihre Renegat*innen. Und je weniger sie zurückgeliebt wird, desto heftiger fällt ihre Zuneigung mitunter aus. Auch über große Entfernungen hinweg.
[1] ›Interview with Vivian Suter‹, https://www.youtube.com/watch?v=wQqAvlyFrcc.
[2] Michael Hugentobler, ›Vivian Suter. Die Frau, die malt und malt und malt‹, ›Das Magazin‹ 35, 2018, S. 20–34, hier zitiert von: https://aad90b8e-41ac-43c6-86cd-5c6dbebb1730.filesusr.com/ugd/94bd02_41aeb887a4944e4ba7f77b7516ed3985.pdf.
BRÜCKE-MUSEUM
Vivian Suter. Bonzo’s Dream
13 SEP 2020—14 FEB 2021
Eröffnungswochenende
12 SEP 11—19 Uhr, 13 SEP 11—18 Uhr