Von unten lesen

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Christine Sun Kim and Thomas Mader, Palm Reader, 2020, Digital Drawing. Courtesy the artists
Christine Sun Kim and Thomas Mader, Palm Reader, 2020, Digital Drawing. Courtesy the artists

Die Kuratorin Ariane Beyn verwendet für ihre Ausstellung ›Readings From Below‹ im Times Art Center Berlin das Konzept des Archivs, um Fragen nach dem künstlerischen Zugriff auf die Gegenwart zu stellen. Ein Gespräch über Methoden, Lesarten, das Gestern, das Heute—und natürlich das Internet

BAW JOURNAL: Die Ausstellung ›Readings From Below‹, die Sie zur Berlin Art Week im Times Art Center Berlin kuratiert haben, nimmt ihren Ausgang vom Archivbegriff. Das ist ja ein recht weites Feld. Was kann man erwarten?

ARIANE BEYN: Der Archivbegriff ist für die Ausstellung eher ein Ausgangspunkt, der sich in den konkreten Arbeiten gar nicht so sichtbar niederschlagen muss. Das Archiv fungiert hier eher als Konzept im Hinterkopf. Es ging mir nicht darum, eine Themenausstellung zu machen und Künstler*innen Archive ausbreiten zu lassen, sondern nach Methoden zu fragen. Danach, wie sich Künstler*innen heute eigentlich mit der Gegenwart beschäftigen. Und da kommt für mich der Archivbegriff ins Spiel—als Möglichkeit, sich auf das Heute zu beziehen, indem man sich aller möglichen Quellen bedient. Alles, was sozusagen aktuell zur Verfügung steht, kann herangezogen werden und wird von Künstler*innen auch verwendet. Dass ist im weiteren Sinne das Potenzial eines Archivs: Dass man Dinge, die schlummern, aufruft und in der eigenen Arbeit aktualisiert. Und sich so zum Beispiel interessante Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen lassen, die vorherrschende Vorstellungen der Gegenwart ins Wanken bringen können. Wer an Archive denkt, denkt häufig zuerst an Materialfülle, an offizielle Sammlungen, an Verschlagwortungen und Kategorisierungen, meinetwegen auch an die Lücken und Abgründe, die sich bisweilen auftun. Im Fall von ›Readings From Below‹ habe ich aber überwiegend Werke zusammengebracht, die nicht vom großen Ganzen ausgehen, sondern von einem Detail oder einer künstlerischen Geste, und von dort auf komplexere Zusammenhänge schließen lassen.

 

Können Sie ein Beispiel für eine Arbeit aus der Ausstellung nennen?

Christine Sun Kim und Thomas Mader beispielsweise beschäftigen sich schon seit längerem mit Gebärdensprache, besonders mit der American Sign Language, kurz ASL. In einer Animation, die auf die Betonwand des Ausstellungsraums projiziert wird, greifen sie bestimmte Gebärdentypen auf, die initialisierten Gebärden, mit denen viele offizielle Dinge bezeichnet werden—Staat , Gesetz oder Regel zum Beispiel. Sie setzen sich aus einem Handzeichen des Fingeralphabets und einer Art Stempelbewegung mit der Faust zusammen. Sie stehen aber auch für die Machtverhältnisse zwischen Gebärdensprachen und den dominanten gesprochenen Sprachen. Ein völlig anderes Beispiel wäre ›Everyday’s the Seventies‹, eine Filminstallation von Trinh Thi Nguyen, für die sie den Besitzer eines bekannten Plattenladens in Hongkong interviewt hat—einen Mann, der eine Faszination für die Musik und die Lebenskultur des damals noch stark von der französischen Kolonialzeit geprägten Vietnam der 1970er Jahre hegt, das Land seiner Jugend, aus dem er nach Hongkong fliehen musste. Nguyen verwebt seine Geschichte in ihrer Installation mit den offiziellen historischen Aufnahmen dieser Zeit und dann noch einmal mit Hongkong-Filmen der 1980er und 1990er Jahre, um so die Geschichte der aus Vietnam nach Hongkong Geflüchteten aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen.

 

Was bedeutet es denn, ein Archiv ›von unten zu lesen‹, wie es im Titel ›Readings From Below‹ heißt?

Der Titel ist dem Text ›Reading an Archive‹ des amerikanischen Künstlers und Kritikers Allan Sekula von 1983 entnommen. Sekula hat sich viel mit Archiven, insbesondere Fotoarchiven, auseinandergesetzt. Mit Walter Benjamin argumentiert er dafür, das Archiv von unten zu lesen. Und das heißt: Beim Lesen das Verdrängte, das Unterdrückte des Archivs herauskehren—in Sekulas Verständnis: das vom Kapitalismus Unterdrückte. »Readings« soll im Zusammenhang mit der Ausstellung aber auch für verschiedene Lesarten stehen, dafür auf welche Weisen Künstler*innen Geschichten erzählen, welcher künstlerischen Sprache sie sich bedienen und wer bei ihnen zu Wort kommt.

Lawrence Abu Hamdan, A Convention of Tiny Movements: Spinneys Super market, Ashrafieh, August 2017, digital Print
Lawrence Abu Hamdan, A Convention of Tiny Movements: Spinneys Super market, Ashrafieh, August 2017, digital Print

Lawrence Abu Hamdan, A Convention of Tiny Movements: Spinneys Supermarket, Ashrafieh, August 2017, 2017, Digital Print. Courtesy the artist and mor charpentier
Lawrence Abu Hamdan, A Convention of Tiny Movements: Spinneys Supermarket, Ashrafieh, August 2017, 2017, Digital Print. Courtesy the artist and mor charpentier
Elom 20ce & Musquiqui Chihying & Gregor Kasper, The Currency, 2020, Limited edition LP, Cover. Courtesy the artists.
Elom 20ce & Musquiqui Chihying & Gregor Kasper, The Currency, 2020, Limited edition LP, Cover. Courtesy the artists.

Wenn wir mit Sekula schon in den 1980er Jahren sind—da fielen mir noch weitere Beispiele aus dieser Zeit ein, die einen spezifischen Umfang mit dem Archiv pflegten. Gibt es eigentlich ›Archivwellen‹, bestimmte Moden, die den Archiv-Begriff unterschiedlich auslegen?

Natürlich ist das alles nicht neu—und natürlich beschäftigen sich Künstler*innen immer schon mit vorgefundenen Dingen und mit den Dynamiken zwischen Gegenwart und Vergangenheit und Zukunft. Die Verbreitung des Internets hat in den späten 1990er Jahren viele neue Impulse gegeben, die Fragen des offenen Zugangs und des Copyrights betreffen. Ebenso die politischen Umbrüche nach dem Fall der Mauer und die Öffnung Osteuropas. In der zweiten Hälfte der Nuller Jahre war der Archivbegriff in der Kunst noch einmal sehr präsent—der Kurator Okwui Enwezor hatte damals viel damit gearbeitet und der Theoretiker und Kunsthistoriker Hal Foster hatte 2004 einen Text mit dem Titel ›The Archival Impulse‹ veröffentlicht. Heute ist die Archivtheorie eng mit postkolonialer Theorie oder mit Medienarchäologie verwoben. Damit hängen die sehr spannenden und aktuellen Fragen zusammen, was eine öffentliche Sammlung umfassen sollte und was heute ein Archiv-Dokument sei. Mir geht es in dieser Ausstellung auch um die Möglichkeiten des Umgangs mit Informationen, der Künstler*innen in einer digitalisierten Welt zur Verfügung steht. Welche Wege kann die Kunst beschreiten, die sich von anderen Formen der Informationsaufbereitung unterscheiden?

 

In einem Text, den Sie zur Ausstellung geschrieben haben, verwenden Sie ein sehr schönes Begriffspaar: ›erfahrungsarm‹ vs. ›informationsreich‹. Ist das diesbezüglich eine hilfreiche Unterscheidung?

Das stammt von Alexander Kluge. Und ja, die Unterscheidung macht tatsächlich sehr gut einen zentralen Gegensatz der digitalen Gegenwart greifbar: zwischen massenhaft verfügbaren Informationen einerseits und den Problemen ihrer Erschließung in der konkreten Erfahrung andererseits. Ich habe für die Ausstellung eher nach kleinen Gesten Ausschau gehalten. Ich finde, das passt gut in eine Gegenwart, die von Nachhaltigkeitsfragen und einer Pandemie geprägt ist. Ziel war es, mit relativ wenig Material oder ausschnitthaften Einblicken trotzdem eine entsprechende Erfahrung zu ermöglichen. Und obwohl nur die in Berlin lebenden Künstler*innen vor Ort waren, sind für die Ausstellung einige neue Arbeiten entstanden.

 

Wenn Sie die Gegenwart in Zeiten der Pandemie erwähnen—wie würden Sie denn diese auch für Kunstinstitutionen nicht gerade einfache Zeit generell gerade einschätzen?

Das Times Art Center Berlin ist hier vielleicht ein interessantes Beispiel: Es ist ja eine Gründung des Guangdong Times Museums in Guangzhou, China. Aber es ist kein Ableger des Museums, sondern ein hier eingetragener Kunstverein, der sich lokal engagiert ist und sein eigenes Programm aufstellt. Dennoch ist es insbesondere mit den asiatischen Kunstszenen sehr eng vernetzt. Für die Ausstellung besuchte ich im Zuge der Recherche dann auch einige selbstorganisierte Archive in Guangzhou und Hongkong. Drei davon werden wir im November in Zusammenarbeit mit dem Arsenal in einem Filmprogramm im Rahmen der Reihe ›Archive außer sich‹ vorstellen. Ich fand es sehr interessant zu sehen, wie dort gearbeitet wird. Auch diese Archive sind für mich ein gutes Beispiel dafür, was auch ganz kleine Institutionen heute eigentlich leisten können: lokal denken und gleichzeitig international aktiv sein, vor Ort engagiert und digital vernetzt. Also genau diese permanente Mehrgleisigkeit, die wir hier in dieser Selbstverständlichkeit gerade erst—und nun beschleunigt durch die Krise—lernen. Dort wird es teilweise schon seit Jahren so praktiziert.

 

Das Gespräch führte Dominikus Müller.

TIMES ART CENTER BERLIN
Readings from Below
10 SEP—12 DEZ 2020
Di—Sa 12—19 Uhr
Eröffnung 9 SEP, 12—20 Uhr

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