»Was wir brauchen, ist keine einzelne Stimme, sondern Polyphonie« 

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Sara Ouhaddou, ›Al Kalima #1‹, Aquarelle auf Papier, 2020. Copyright: Sara Ouhaddou

Seit 2016 ist Alya Sebti künstlerische Leiterin der ifa-Galerie Berlin, die sie inzwischen mit Inka Gressel leitet. Mit dem Langzeit-Projekt ›Untie to Tie‹ hat sie ein multidisziplinäres und weitreichendes Forschungsprogramm ins Leben gerufen, um die kolonialen Strukturen des Alltäglichen zu untersuchen. Wir treffen Sebti, die 2020 auch die Manifesta 13 in Marseille mitkuratiert hat sowie aktuell Teil des kuratorischen Teams für die São Paulo Biennial 2025 ist, in einem Café in Berlin-Mitte. Ein Gespräch über ihre bevorstehende Ausstellung während der Berlin Art Week, Formen der Kooperation, infrastrukturelles Denken—und Fragen der Schönheit

Dominikus Müller: Während der Berlin Art Week eröffnet in der ifa-Galerie Berlin die Ausstellung ›Display‹ von Sara Ouhaddou. Die Schau hier in Berlin ist nur ein Teil des Projekts, der andere ist zeitgleich im Musée d’Art Contemporain Africain Al Maaden (MACAAL) in Marrakesch zu sehen. Warum diese zweigleisige Herangehensweise?

Alya Sebti: Meriem Berrada, die künstlerische Leiterin des Musée d’Art Contemporain Africain Al Maaden (MACAAL), mit der ich diese Ausstellung gemeinsam kuratiere, und ich möchten ein komplementäres Erlebnis erschaffen. Dem zugrunde liegt eine Frage, die mich nun schon eine ganze Weile beschäftigt: Wie können wir—aus einer deutschen Institution heraus—in einem anderen Land relevant und nachhaltig arbeiten? Vor nicht allzu langer Zeit haben wir schon etwas ähnliches mit einem von den KW Center for Contemporary Art in Berlin und ThinkArt aus Casablanca initiierten Joint-Venture-Projekt versucht, das sich mit der extrem einflussreichen Ecole de Casablanca beschäftigte. Um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts herum war die Ecole de Casablanca prägend für die Etablierung der zeitgenössischen Kunst im gerade unabhängig gewordenden Marokko. Hier in Berlin gab es ein Ausstellungsprogramm, und in Casablanca wurde über drei Jahre hinweg eine Bibliothek und ein Kunstzentrum für die dortige Öffentlichkeit aufgebaut.  

Und die neue Ausstellung?  

Sara Ouhaddou möchte mit dieser Ausstellung einen Weg aufzeigen, wie Kunsthandwerker*innen und kunsthandwerkliche Communitys in Marrakesch eigenständig ihrer eigenen Arbeit nachgehen können. In ihrer künstlerischen Praxis hinterfragt Ouhaddou anhand von Objekten Geschichte—sie untersucht ihre Genealogien, seziert ihre Funktionen und spinnt ihre Formen weiter. Dann produziert und reproduziert sie diese mit Hilfe lokaler Kunsthandwerker*innen. Unser Ausstellung fungiert nun als eine Art Startschuss für ein längeres Programm, das—wenn alles klappt—den beteiligten kunsthandwerklichen Familien in Marrakesch ein Arbeitsmodell an die Hand gibt, um die Güter herzustellen, die sie wirklich machen wollen—Produkte außerhalb der üblichen Tourismusökonomie, von der Marrakesch so abhängig ist. Diese Kunsthandwerker*innen stammen aus unterschiedlichen Bereichen—wir haben die Familie Abiada, die mit Schmuck arbeitet, Fouzia und Said Yagoub stellen Keramiken her, und Amin Hassani macht Stickereien.  

 

 

Im Zentrum des Projekts steht also eine erweiterte Idee von Kooperation?  

Genau, die Idee der Kooperation und ihre möglichen Formen spielen in diesem Projekt eine Schlüsselrolle. Da wäre nicht nur die zu Beginn erwähnte Kooperation zweier Institutionen, sondern, viel wichtiger, auch die zwischen den Kunsthandwerker*innen und der Künstlerin. Mit einigen dieser Kunsthandwerker*innen arbeitet Ouhaddou bereits seit ungefähr zehn Jahren zusammen. Anfänglich beauftragte sie diese, für sie zu arbeiten—also eher die klassische, konventionelle und letztendlich hierarchische Form des Einsatzes kunsthandwerklicher Arbeiten im Kunstkontext. Aber über die Jahre hat sich ihre Kooperation weiterentwickelt. Während der Pandemie begann Ouhaddou die Kooperation auszudehnen, und versuchte, neue Wege der Zusammenarbeit zu etablieren. Dabei begannen die Kunsthandwerker*innen damit, völlig neue Dinge auszuprobieren, Stickereien auf Kautschuk beispielsweise. Ouhaddou fing dann an, über ein Modell nachzudenken, das es ihnen ermöglicht, auch weiterhin an derartigen Dingen zu arbeiten, ohne auf sie als Künstlerin angewiesen zu sein, die autorisiert und steuert.  

 

»Die Frage ist: Wie können sich Kunst und Kunsthandwerk auf Augenhöhe begegnen? Wie ist eine gerechtere oder ethischere Form der Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Kunsthandwerker*innen denkbar?«
Alya Sebti

Wie plant Ihr, dieses Ziel zu erreichen? Wenn die Kategorie des ›Kunsthandwerks‹ im Kontext der bildenden Kunst angesprochen wird, dann häufig, um die Idee einer Autonomie der Kunst ›kritisch‹ zu hinterfragen—und letztendlich profitiert dabei nur die Seite der bildenden Kunst. Die kunsthandwerkliche Seite dagegen wird wieder mal auf einen bestimmten ›Nutzwert‹ reduziert.  

Nun, normalerweise beauftragt ein*e Künstler*in eine Kunsthandwerker*in, bezahlt eine bestimmte Summe, und das war’s dann. Die Kunsthandwerker*innen sind im fertigen Werk selten präsent, weder werden sie namentlich genannt, noch profitieren sie ökonomisch von weiteren Entwicklungen. Im Rahmen ihres Projekts verfolgt Ouhaddou nun drei verschiedene Modelle der Kooperation: erstens das klassische, wo die Künstler*in eine Arbeit beauftragt; zweitens, die selbe Logik umgedreht—die Kunsthandwerker*innen beauftragen die Künstler*in; und drittens, eine Position dazwischen, also eine gemeinsame Arbeit oder ein gemeinsames Projekt. Was wir in der Ausstellung präsentieren werden, sind die Ergebnisse dieser laufenden Kooperationen. Ouhaddou arbeitet parallel an einer Art Mindmap, die das Denken hinter diesem Projekt und seine Prozesse transparent macht. 

Soll diese Zusammenarbeit nach der Ausstellung weitergehen?  

Ja. Aber am Ende sollten die Kunsthandwerker*innen ihre Arbeiten selbst produzieren und— das ist ziemlich wichtig— auch selbst verkaufen können. Wir wollen ihnen einen Weg heraus aus der Tourismusökonomie bieten. Wir schaffen eine Etsy-Plattform für sie, damit sie ihre Arbeiten direkt verkaufen können, setzen Instagram-Seiten auf, damit sie direkt Werbung machen können. Das eigentliche Ziel dieses Projekts ist die Entwicklung eines auf Dauer angelegten eigenständigen Geschäftsmodells— Verbreitung, Verfügbarkeit, Produktion, all dies.  

Also eigentlich eine Art exemplarische Infrastrukturmaßnahme.  

Genau. Eine, die das Verhältnis zwischen Künstler*innen und Kunsthandwerker*innen angeht und versucht, die Hierarchie zwischen Kunst und Kunsthandwerk zu überwinden. Die Frage ist: Wie können sich beide Bereiche auf Augenhöhe begegnen? Wie ist eine gerechtere oder ethischere Art der Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Kunsthandwerker*innen möglich?  

 

Du hast gesagt, ihr möchtet das Kunsthandwerk aus der ›Tourismusökonomie‹ herausholen. Wie beeinflusst diese Ökonomie, dieser Markt, die tatsächlich produzierten Dinge, nicht zuletzt deren ästhetische und formale Qualität?  

Nun, wenn diese Kunstgewerbler*innen aus Marrakesch etwas produzieren, dann stellen sie sich meist vor, was Touristen am liebsten haben wollen. Da ist eine Menge Projektion im Spiel, und das blockiert die Kreativität und verengt ihre Ausdrucksformen geradezu drastisch. Dieser Kreislauf des Tourismus hat eine enorme Wirkung auf die Kunsthandwerker*innen und ihre traditionellen Produktionsweisen, auf die gezeigten Motive, die eingesetzten Techniken, aber auch auf die Frage, wie man diese Techniken und Traditionen weiterentwickeln könnte. Die Familie Abiada beispielsweise stellt sehr klassischen marokkanischen Schmuck her, den man in der Medina in Marrakesch kaufen kann. Sie selbst haben eine große Leidenschaft für die Tbourida, auch bekannt als ›Fantasia‹—ein traditioneller marokkanischer Pferdereitsport. Sie besuchen möglichst alle Turniere und haben jetzt auch angefangen, entsprechenden thematischen Schmuck herzustellen. So etwas gab es bisher noch nicht. Und auf einmal produzieren sie nicht mehr das, wovon sie glauben, dass die Touristen es kaufen wollen, sondern etwas, was sie selbst interessiert, etwas, was ihre Welt widerspiegelt. Dieser Schmuck wird beispielsweise in der Ausstellung zu sehen sein.  

Das ist ein großartiges Beispiel dafür, wie sich infrastrukturelle Fragen mit formalen und ästhetischen verbinden lassen! Normalerweise, so habe ich zumindest das Gefühl, neigen infrastrukturelle Herangehensweisen eher dazu, die ästhetische und formale Dimension zu vernachlässigen.  

Aber dabei ist es am Ende doch das Aussehen ihrer Produkte, ›die Schönheit‹ der Dinge, wenn man so will, die dazu beiträgt, dass diese Familien etwas verkaufen und so ihren Lebensunterhalt bestreiten können! Insofern sind formale Fragen extrem wichtig. Du hast allerdings recht, ich habe auch das Gefühl, als würde ein Augenmerk auf Schönheit und die Produktion von etwas, das vor allem schön ist, als fast etwas leicht Kitschiges oder Anrüchiges betrachtet—insbesondere während der letzten Jahre und in einer Stadt wie Berlin.  

In den letzten Jahren wurde sehr viel Energie darauf verwandt, weit verbreitete institutionelle Schlagseiten oder Verzerrungseffekte anzugehen und zu versuchen, die Dinge auf einer systemischen und infrastrukturellen Ebene zu ändern. Glaubst du, es ist an der Zeit, wieder Fragen der Form in diese Bemühungen zu integrieren—aber gefiltert durch das Erreichte und vor dem Hintergrund entsprechender Veränderungen?  

Das ist genau das, worum ich mich seit einer Weile in der ifa-Galerie Berlin bemühe. Die letzten Ausstellungen hier waren der Versuch, auch wieder den Anspruch auf das zu formulieren, was man eine gewisse ›Schönheit‹ nennen könnte—Schönheit als wesentliche Kategorie des Empfindens. Nur weil etwas schön oder auf formaler Ebene interessant ist, bedeutet das nicht, dass es gleich kitschig oder auch unpolitisch wäre. So wichtig es auch ist, die infrastrukturelle Ebene zu betrachten und dort etwas zu verändern, könnte es doch auch an der Zeit sein, vermehrt auf das zu blicken, was dabei verloren gegangen ist. Ich glaube wirklich, dass diese Fragen nun unter anderen Umständen wieder stärker beschäftigen werden.

 

»Um die kolonialen Strukturen des Alltäglichen anzugehen, braucht man eine Struktur, die nicht nur dauerhaft und nachhaltig ist, sondern auch zugänglich.«
Alya Sebti

 

Gleich nachdem du in der ifa-Galerie Berlin angefangen hast, hast du eine übergreifende Programmstruktur namens ›Untie to Tie‹ etabliert. Worum geht es da?  

Mit ›Untie to Tie‹ soll die koloniale Struktur des Alltäglichen untersucht werden. Alles, was ich in der ifa-Galerie Berlin mache, geschieht unter dieser Prämisse. Heute ist das anders, aber damals, 2016, waren diese Fragen meiner Wahrnehmung nach noch ziemlich neu, besonders in Berlin. Natürlich gab es damals schon einen Raum wie Savvy Contemporary, der sich mit Fragen der Dekolonialität beschäftigte. Aber in der Lage zu sein, diese Themen innerhalb einer staatlich finanzierten Institution wie der ifa-Galerie Berlin anzusprechen, war ein großer Schritt. Und ich bin wirklich sehr froh darüber, dass sich diese Fragen durchgesetzt haben und nun überall angegangen werden—nicht nur eine Kritik kolonialer Strukturen, sondern auch Fragen von Diversität, Migration, Ökologie, all das.  

In welcher Beziehung steht ›Untie to Tie‹ denn zur Infrastruktur der ifa-Galerie Berlin?  

Mit dem Programm wollte ich einen Bruch innerhalb der Institution selbst einführen. ifa stellt den Rahmen zur Verfügung und gibt uns die Freiheit, das zu machen, was wir tun, wofür ich sehr dankbar bin. ifa beherbergt in gewisser Weise also ›Untie to Tie‹, stellt einen Schirm für einen weiteren Schirm zur Verfügung. Und dies macht eine Form der Programmgestaltung möglich, die vom klassischen Modell von aufeinanderfolgenden Ausstellungen abweicht. Stattdessen ist ›Untie to Tie‹ viel stärker auf Recherche und Forschung ausgerichtet—Ausstellungen, öffentliche Programme, unterschiedliche Begegnungen, Performances, Klang und, auch ganz wichtig, eine digitale Plattform. Denn Orte, Menschen und Ideen miteinander zu verbinden und Wissen zu teilen, ist für den ganzen Ansatz entscheidend. Um die kolonialen Strukturen des Alltäglichen anzugehen, braucht man eine Struktur, die nicht nur dauerhaft und nachhaltig ist, sondern auch zugänglich.   

Da wir gerade von Zugänglichkeit sprechen—mir ist aufgefallen, dass Klang und klangbasierte Kunst in eurem Programm eine prominente Rolle spielen. Und das scheint so ähnlich auch bei anderen Institutionen zu sein, die sich mit postkolonialen Diskursen und Praktiken auseinandersetzen, man denke beispielsweise an das Haus der Kulturen der Welt hier in Berlin. Gibt es in dieser Frage sozusagen eine besondere Verbindung zwischen Medium und Inhalt?  

Nun, der Körper reagiert auf ganz intuitive Weise auf Musik, und ganz anders als auf die bildenden Künste. Im Klang gibt es ein gewisses spielerisches Element und eine bestimmte Schönheit. Er spricht alle Sinne an und fördert Präsenz. Und dennoch hat Klang viele Schichten, ermöglicht viele Zugänge. Er ist gleichzeitig höchst diskursiv und politisch, lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Und sich in Klang zu versenken, bedeutet auch, dass man sich in diesem Moment auf eine gewisse Art locker macht. Mit all diesen Aspekten ist er viel zugänglicher und offener als ein Großteil der zeitgenössischen bildenden Künste. Und daher inklusiver. Klang hat—wenn man einen solchen Begriff verwenden will—eine gewisse Universalität.  

Als du 2016 ›Untie to Tie‹ begonnen hast, war die künstlerische wie auch die politische Landschaft eine andere als heute. Was hat sich für dich seitdem verändert?  

Als ich anfing, hatte ich die Sorge, dass die neue Aufmerksamkeit für Fragen zu kolonialen Strukturen, zur Dekolonialität und dergleichen nur die nächste Mode in den Künsten sein könnte. Heute interessant, morgen schon wieder abgehakt. Aber zum Glück kam es anders. Diese Fragen sind heute präsenter denn je. Allerdings bin ich mittlerweile nicht mehr so sicher, wie viel weiter dies in die Struktur einer Institution oder der Gesellschaft insgesamt hineinwirken wird. Vor ein paar Jahren war ich optimistischer, aber seitdem gab es einen drastischen Backlash, beispielsweise im Nachgang zu den ganzen Diskussionen über die documenta fifteen. Ganz allgemein werden Alltagsrassismus und Xenophobie wieder stärker.  

Wie geht es dann von hier aus weiter?  

Für mich ist es vor allem wichtig sicherzustellen, dass das Programm weiter seinen Weg geht. Ich möchte hier betonen, dass ich selbst bisher noch nie zensiert worden bin, und auch mein Programm war von so etwas nicht betroffen. Aber ich sehe eine wachsende Notwendigkeit, aktiv der Selbstzensur vorzubeugen. Es ist wichtig, den Raum für Diskurs und Diskussion offenzuhalten. Das ist für mich entscheidend—einen Raum zu schaffen, der kritisches Denken und Dialog ermöglicht, und daran zu arbeiten, dass er offenbleibt. Und dazu gehört dann auch—heute mehr als je zuvor—an dauerhaften Allianzen mit anderen Institutionen, anderen Menschen und anderen Räumen zu arbeiten. Oder, um noch einmal in Kategorien des Klangs zu sprechen: Was wir brauchen, ist keine einzelne Stimme, sondern Polyphonie—interagierend, sich manchmal widersprechend und sich dann wieder gegenseitig ergänzend. 

 

 

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