Dieser Artikel erschien zuerst in der Berlin Art Week 2025 Sonderausgabe des Freitag.
Ein liegender Rückenakt. Die Haut ist fast über die ganze Leinwand aufgespannt. Nur aus dem unteren Bildrand kräuselt sich etwas hellblauer Stoff, dessen Falten die der Haut, die Furche am Schulterblatt und die Struktur der sich andeutenden Rippen wiederholen. Je länger man das in akribischer Präzision gemalte Ölbild betrachtet, desto mehr zersplittert der Eindruck der Ganzheit dieses Körpers in Fragmente. Desto fremder wird das, das man doch eigentlich allzu gut zu kennen meint. Das, in dem man selbst steckt, das einen durchs Leben trägt—der Körper, der man selbst ist.
Das Gemälde ›Untitled‹ wird neben neun weiteren Arbeiten in Lukas Luzius Leichtles zur Berlin Art Week im CCA Berlin—Center for Contemporary Arts eröffnenden Einzelausstellung ›Eindringling‹ zu sehen sein.
Der 29 Jahre junge Maler hat erst letztes Jahr seinen Abschluss an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin gemacht, wird aber schon von der Pekinger Galerie White Space repräsentiert und hatte 2023 seine erste institutionelle Einzelausstellung im Kunstverein seiner Geburtsstadt Aachen.
Als ich Leichtle in seinem Atelier in Berlin-Lichtenberg besuche, sind es noch fast zwei Monate bis zur Eröffnung der Schau in Berlin. Sein Studio befindet sich in einem Gebäudekomplex mit mehreren Eingängen, weshalb er mich freundlich winkend im Hof abholt. Sein Atelier ist hell, geräumig, ordentlich—und sehr sauber. Bis auf ein paar Tuben deutet nichts darauf hin, dass hier mit Farbe gearbeitet wird. An den Wänden hängen sechs fertige Gemälde für die Ausstellung: Variationen auf Hände sowie zwei Bilder, auf denen keine Körperteile zu sehen sind. Stattdessen zeigen sie Badezimmerfliesen. Auf dem Tisch steht eine Staffelei mit einem Rückenakt, an dem er gerade arbeitet.
Leichtle redet und analysiert, ohne dass man Fragen stellen muss. Es ist offenkundig, wie ernst er die Verbindung seiner Malerei mit der Wahrnehmung der eigenen Verortung in der Welt nimmt. Da ist die grundlegende Selbstreflexion, als weißer Mann Ölmalerei zu machen, aber auch die Fragen danach, welche politische Relevanz das Infragestellen der eigenen Perspektive mit der Malerei hat. Gerade arbeitet er sechs Tage die Woche von morgens bis abends.
»Meine erste Idee ist oft cheesy«, sagt Leichtle schmunzelnd. Er steht mit verschränkten Armen vor der Wand mit den drei Gemälden, auf denen Hände in Nahaufnahme zu sehen sind: die Struktur der Fingernägel, die Poren der Haut, die Falten, die sich aus dem Nagelbett hervorwölbende Nagelhaut. »Ich nenne diese erste Idee auch Magritte-Idee. Die muss ich dann runterbrechen.« Um diese Bildidee, hier das Motiv seiner Hand, zu vereinfachen, macht Leichtle zunächst Skizzen. Dann nimmt er mit dem Smartphone Fotos auf und collagiert aus diesen Aufnahmen mit einer App auf dem iPad ein Bild: Dafür kombiniert er Elemente aus den einzelnen Fotos, mal schneidet er nur den Fingernagel aus und fügt ihn in das neue Bild ein, mal setzt er einen ganzen Fetzen Haut an eine Stelle, an der vorher nur ein Schatten war. So baut er ein Bild, das nicht mehr der fotografischen Logik folgt, sondern der malerischen.
Kontrolle über den Körper
Er erzählt, dass er zu Beginn seines Studiums noch direkt von Fotos abgemalt habe, was ihn aber nicht zum gewünschten Ergebnis geführt habe, denn: »Der Fotografie verzeiht man Ungereimtheiten, die Malerei funktioniert anders.« Und für die Regeln der Malerei interessiert sich Leichtle. Für die Behauptung von Raum und Bildtiefe. »Es geht mir um die Idee einer Hand und nicht um das fotografische Abbild davon.«
Wenn er dann zufrieden mit der Collage ist, skizziert er das Motiv erneut. Diesem Ablauf folgt Leichtle bei jedem seiner Bilder. Er beschreibt sich selbst als Mensch der Kontrolle und der Routine, auch in seinem Alltag, zum Beispiel bei der Ernährung. Außerdem neige er zur Hypochondrie. Im selben Atemzug, wie er das sagt, lacht er zwar über sich selbst, doch es ist zu vermuten, dass dieser Drang zur Kontrolle nicht immer angenehm ist.
Bevor er in mehreren Schichten transparente Lasuren von Ölfarbe auf die Leinwand aufträgt, grundiert er diese und reibt mit unterschiedlichen Werkzeugen Grundierung ab, um die gewünschte Struktur zu erreichen: Bei den Handbildern zum Beispiel sind die Nägel ganz glatt, während die Haut durch die Textur der Leinwand porig wirkt. Auf dem Arbeitstisch liegen die Werkzeuge, die Leichtle dafür verwendet: Schleifpapier, Scheuerschwämme, kleine Pinsel mit kratzigen Haaren, ein elektrischer Maniküreschleifer, daneben ein Stift zum Entfernen von Nagelhaut. »Den benutze ich für die eigene Maniküre«, lacht Leichtle, der immer die eigenen schlanken Hände mit den langen, manieristisch anmutenden Fingern als Modelle verwendet. Aufmerksam auf die Materialität seiner Haut und Nägel wurde er aber nicht durch deren Schönheit, sondern durch Entzündungen und Risse aufgrund des häufigen Waschens nach dem Malen. Der Versuch, die Nägel zu pflegen, habe die Reizung oft verschlimmert, sodass er sich üben musste, die Kontrolle abzugeben—etwas, das Leichtle schwerfällt. Vielleicht sind seine Gemälde auch ein Weg, wieder Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen.
»Je länger man sich selbst anschaut, desto mehr kommt man sich wie ein Alien vor.«—Lukas Luzius Leichtle
Die Weise, in der die Materialität seiner Leinwände Körperlichkeit haptisch wahrnehmbar macht, ist jedenfalls eindrücklich. Der Duktus, die Spuren des Malens—und damit die Anwesenheit seines eigenen Körpers reduziert Leichtle dabei auf das Mindeste. Leinwand und Haut scheinen eins zu sein. Was ist der Körper, was ist das Material? Was ist das Eigene, was ist das Fremde?
Das sind Fragen, die auch Jean-Luc Nancy in seinem Aufsatz ›Der Eindringling‹ von 1999, nach dem Leichtle seine Ausstellung betitelt hat, behandelt. Darin nimmt der französische Philosoph die Erfahrung einer Herztransplantation und die Krebserkrankung, an der er als Folgeerscheinung litt, als Ausgangspunkt, um über das Selbst, den Körper und Fremdheit nachzudenken. Nancy beschreibt, wie das Nichtfunktionieren seines Organs ihn vom eigenen Körper entfremdete: »Mein Herz wurde zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand.« Das neue Herz einer fremden Person rettete ihn zwar, führte aber gleichzeitig zur Infragestellung seines Selbst. Denn was ist das Eigene, wenn es nicht mehr funktioniert? Ist das Andere noch fremd, wenn es ein Teil von mir wird? Und wie wird das Fremde zum Eigenen? Das Betrachten von Leichtles Bildern gleicht mitunter der Erfahrung eines Fremdwerdens des eigenen Körpers.
Wunden oder offene Stellen zeigen seine Gemälde allerdings nie. Leichtle erzielt Intensität ohne Horror. Als »Reminder daran, wie es nicht aussehen soll«, so formuliert er es, liegt auf dem Sofa ein Katalog zum Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Den bewundert er zwar, in seiner eigenen Arbeit aber geht es Leichtle darum, eine Wirkung zu erreichen, ohne dass Blut aus Wunden tropft. Der Anblick eines durch den Lichteinfall zufällig geröteten Ohrs könne ausreichen, um Körperlichkeit distanziert zu betrachten. »Je länger man sich selbst anschaut, desto mehr kommt man sich wie ein Alien vor.« Die Nägel, die im Gegensatz zur Haut ganz hart sind und ständig wachsen, wie aktive Grenzen, die die Ränder des Körpers in den Außenraum hinein materialisieren.
Leichtles Darstellungen des Körpers sind zwar exakt, die Gattungsbezeichnung Hyperrealismus mag er aber nicht. Es geht ihm weniger um die Repräsentation von Realität als um die Darstellung seines Eindrucks von Körperlichkeit. Und es geht ihm um die Malerei. »Ich will einfach machen.« Er will überzeichnen und mit Technik spielen, er will Farbtöne und Licht ›rauf- und runterdrehen‹, er will Farbe ›schieben‹ und ›reiben‹, bis das Bild im Außen dem Bild in seinem Inneren entspricht. Die Technik hat er sich mit Youtube-Videos selbst beigebracht. Grundlagenkurse in Malereitechnik sind an vielen Kunsthochschulen immer weniger Teil des Curriculums. Vor seinem Malereistudium hat Leichtle Grafikdesign studiert. Er erzählt, dass er sich damals für Buchdesign und Leseführung interessiert habe. Und das passt. Denn auch in seinen Gemälden geht es um die Kontrolle des Blicks. Weil er aber in den Kursen seines Grafikdesign-Studiums stets versuchte, sämtliche Aufgaben in Malerei, statt am Computer umzusetzen, entschied er sich noch vor dem Abschluss für den Wechsel an die Kunsthochschule.
»Mein Herz wurde zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand.«—Jean-Luc Nancy
Schließlich bewegen wir uns auf die einzigen beiden Gemälde im Atelier zu, auf denen keine Körperteile zu sehen sind—sondern Badezimmerfliesen. Wieso malt er Fliesen? »Das hat so etwas Zugängliches, weil es jede*r kennt, und das ist mir wichtig.« Er erzählt, dass er täglich mit seiner Oma telefoniere. Die habe zwar nicht viel mit Kunst am Hut, aber trotzdem spreche er mit ihr über seine Malerei. Es ist eben das, was er jeden Tag tut. Als sie gehört habe, dass er Fliesen male, habe sie ihm beim nächsten Telefonat besorgt berichtet, dass sie sich ihre Badfliesen angesehen habe und sich jetzt frage, wie er das Raue der Fugen im Gegensatz zum Glatten der Kacheln darstellen wolle. Das ist eine gute Frage, die den Kern von Leichtles Ausei-nandersetzung mit der Malerei trifft. In ihr geht es darum, Materialität und Volumen erfahrbar zu machen und mit der Wahrnehmung von Oberflächen zu spielen. Und so kommt es wohl auch, dass sich bei mir—vor den Bildern mit den Fliesen stehend—, obwohl hier keine Körper abgebildet sind, nichtsdestotrotz der Eindruck von Körperlichkeit einstellt: Es sind die Farbe und die Behandlung der Leinwand, die Plastizität und Lebendigkeit suggerieren. Während die eine der beiden Arbeiten in einem Grünton gehalten ist, erinnert das Rosa der zweiten an Haut. Das Raster, das durch die Fugen entsteht, strukturiert beide Bilder. Die überlebensgroßen Maße deuten nicht nur auf den menschlichen Körper, sondern auch auf die Dusche hin, deren Architektur ja für selbigen ausgelegt ist.
Es ist verrückt: Obwohl hier nichts dergleichen dargestellt ist, drängen sich mir beim Betrachten vor dem inneren Auge Bilder von Kreuzigungsszenen eines Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden auf. Als ob diese Bilder durch das Volumen der Farbe einen Körper bildeten, der unterschiedliche Darstellungen des Körpers aus der Kunstgeschichte in sich aufgesogen hätte. Spannend ist nun auch, wie der junge Maler seine Arbeit von diesem Punkt aus weiterentwickelt. Denn die Fliesenbilder zeigen, dass sein Blick auf die Repräsentation des Körpers schon so sezierend ist, dass es eigentlich gar keiner Darstellung des Körpers mehr bedarf. Dieses Eigene, das oft erst dann, wenn es fremd wirkt, richtig wahrnehmbar wird. Falls man es dann noch das Eigene nennen kann.
›Lukas Luzius Leichtle: Eindringling‹, CCA—Center for Contemporary Arts, 11 SEP—22 NOV 2025