Analoge Arbeit am Selbst

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Porträt. Ihre Ausstellung im MoMA war für Nora Turato ein Wendepunkt. Zwei Schauen zeigen neue Werke der Künstlerin

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

Einen Monat nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, im März 2022, endete die zweiwöchige Performancereihe und Ausstellung ›pool 5‹ der kroatischen Künstlerin Nora Turato im MoMA, dem Museum of Modern Art in New York. Wer dort ausstellt, ist ganz oben angekommen. »Danach wusste ich, ich
muss jetzt erst mal runterkommen«, erklärt Turato im Videotelefonat aus ihrem Zuhause in Amsterdam. Dafür kamen für sie zwei Wege infrage: »Entweder ich bringe mich selbst runter oder ich werde von außen runtergeholt.« Turato entschied sich für erstere Option.

Das Ergebnis dieser Entscheidung lässt sich nun in Berlin betrachten. Gleich zwei Ausstellungen zeigen neue Arbeiten der 1991 in Zagreb geborenen Künstlerin. Das Brücke-Museum präsentiert in Kooperation mit dem Schinkel Pavillon eine Audioinstallation von Turato in der Gruppenschau Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Künstlerische Zeugnisse von Krieg und Repression (Lesen Sie Seite 25) und die Galerie Sprüth Magers eröffnet mit ›NOT YOUR USUAL SELF?‹ eine Einzelausstellung der Künstlerin mit Emaille-Arbeiten und einem raumfüllenden Wandbild.

Turato arbeitet mit Sprache. Nach ihrem Grafikdesignstudium in Amsterdam war sie zunächst mehrere Jahre als Grafikerin beschäftigt, bis sie das Interesse für Wörter, Werbung und Typografie in die Kunst verlagerte. Für ihre Emaille-Tafeln und ortsspezifischen Wandbilder entwickelt sie eigene Schriftarten. Das Herzstück von Turatos Schaffen aber bilden ihre 25-minütigen Performances. Für diese probt sie monatelang und übt täglich mit einer Stimmtrainerin an ihrem akzentfreien Englisch.

Die Sätze und Textfragmente in Turatos Arbeiten kreisen um alle erdenklichen Phänomene unserer Zeit: Klimawandel, Luxusmode, Selbstoptimierung, Glücksspiel, Neurowissenschaften, Neoliberalismus, Betrug, Kryptowährungen, CrossFit, NFTs, Passwörter oder Jeff Bezos’ Einkommensteuerabzüge.

Hat man die Künstlerin einmal diese Sätze—die sie in ihren physischen Arbeiten statt mit ihrer Stimme mit Typografie moduliert—aussprechen gehört, kriegt man sie nicht mehr aus dem Kopf: »Follow me you coward!« (Folge mir, du Feigling!), »You’re so vain.« (Du bist so eitel.), »All is forgiven.« (Alles ist vergeben.) oder »The Armani suit was the look of savage capitalism.« (Der Armani-Anzug war der Look des wilden Kapitalismus.).

Einen geschlossenen Sinn ergeben ihre monologischen Wortkaskaden nicht. Stattdessen sind die aus dem Leben gegriffenen Sätze eher an Narrative, Atmosphären oder einen Zeitgeist gekoppelt, die immer nur kurz angerissen, während ihrer Performances erinnert werden—ein Feuerwerk von Déjà-entendus.

Turato tritt selbstbewusst auf und vermittelt mit ihrer tiefen Stimme überzeugend den Eindruck, diese Sätze verfügten über einen wichtigen Sinn, den sie nun an die Welt weiterzugeben habe. Sobald man aber etwas wiederzuerkennen meint, lässt Turato den narrativen Strang wieder fallen. Sie kreischt, flüstert, fragt, behauptet, dehnt Worte in die Länge oder bricht sie abrupt ab und oszilliert dabei zwischen Tonlagen und Persönlichkeiten. Zuweilen wirkt es während ihrer Performances, als ob sich die Sätze von allein den Weg aus ihrem Mund suchen würden. Trotzdem ist Turato kontrolliert und präsent. Diese Gleichzeitigkeit von scheinbarer Fremdbestimmtheit und minutiös artikulierter Körperlichkeit macht ihre Performances so faszinierend.

Reise der Heilung

Turatos erster Auftritt liegt zehn Jahre zurück. Damals performte die 22-Jährige in einer Amsterdamer Galerie mit High Heels im schrillen Dress der hippen Luxusmodemarke Balenciaga, auch bekannt aus Performances von Anne Imhof. Seit ihrem Erfolg in New York braucht Turato das nicht mehr. Sie trägt jetzt Jeans, T-Shirt und Turnschuhe.

Die Reaktionen auf ihre Auftritte sind unterschiedlich. Für die Manifesta, die 2018 in Palermo stattfand, performte Turato in einer katholischen Kirche. Danach stand im Gästebuch, sie sei eine ›Hexe‹. Die Künstlerin erinnert das an ihr Heimatland Kroatien. Sie sagt, dass sie dort bis heute nicht auftreten könne, zu konservativ und zu katholisch. Und sie resümiert: »Ich bin die erste Frau meiner Familie, die mit etwas Geld verdienen und Karriere machen kann, für das die Frauen der Generationen
vor mir eingesperrt worden wären.« Um sich nach dem Erfolg in New York selbst zurück auf den Boden zu holen, erzählt Turato, war die erste Maßnahme eine Pause vom Internet. Eine drastische Veränderung, denn zuvor verbrachte sie Tage damit, das Netz nach brauchbarem Textmaterial zu durchscrollen.

Um zu verstehen, welche Bedeutung das Onlinesein für ihr Schaffen hat, muss man sich Turatos Arbeitsweise vergegenwärtigen: Grundlage für ihre Werke sind Textsammlungen. Diese nennt Turato Pools. Die Sätze für ihre Pools sammelte sie bislang vor allem im Internet, auf Twitter (das jetzt X heißt) und Instagram, in Podcasts, Filmen, aber auch in Büchern, Zeitungen, Gesprächen, Werbeplakaten oder Fernsehsendungen, Songtexten, Grußkarten oder in Beipackzetteln für Medikamente. Aus ihnen pickt sie Sprachfetzen und tippt oder kopiert sie in ein Worddokument.

Nach einem Auftritt schrieb jemand ins Gästebuch, Turato sei eine ›Hexe‹

Als Teenager sang die Künstlerin in einer Punkband und spielte Bass. Weil sie oft keine Ideen für die Songtexte hatte, nahm sie wahllos Bücher aus dem Regal und suchte
sich Sätze, deren Klang sie für gut befand. »Eigentlich habe ich damals schon das gemacht, was ich heute mache«, lacht Turato. Ihre Dozentin, von der Turato so liebe- wie respektvoll erzählt, habe sie während des Grafikdesignstudiums dann auf die Idee gebracht, ihre seitenlangen Textsammlungen laut vorzulesen.

Statt wie sonst einen Großteil ihrer Zeit dem Internet zu widmen, begann Turato dann im April 2022 eine »verrückte Reise der Heilung«, wie sie selbst sagt. Sie machte Therapien und probierte Praktiken zur Selbstoptimierung wie Neurofeedback, EMDR (Eye Movement Desensitisation and Reprocessing), holotrope Atemarbeit und Langstreckenlauf. »Ich wollte sehen, wie ich mich selbst verändere und wie das wiederum meine Arbeit verändert.« Turato beschreibt das Gefühl, das sie direkt nach der Schau im MoMA überkam, als »starke Intuition«. Sie versucht diese näher zu beschreiben, aber es fällt ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Sie nennt die Erfahrung »magisch«, scheint aber auch mit diesem Adjektiv nicht zufrieden. Jedenfalls habe ihr die Einsicht spürbar gemacht, an einem Endpunkt angelangt zu sein. »Ich glaube, das hing auch mit dem Krieg in der Ukraine zusammen und damit, dass er mich an die Jugoslawienkriege erinnert hat.«

Rückkehr in die Realität

Turato ist 1991 geboren, in dem Jahr, in dem Kroatien seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte und ein vierjähriger Krieg begann: »Mein ganzes Schaffen ist durch das Aufwachsen in einem Nachkriegsland geprägt, das sich gen Westen orientierte.« Sie probierte Cola, sah die Werbung westlicher Marken und war begeistert von deren Logos und Schriftzügen. »Ich kann die westliche Kultur präziser nachahmen als die Leute aus dem Westen selbst«, sagt Turato und fügt hinzu: »Mein Interesse für Werbung ging einher mit der Erfahrung der Nachkriegszeit in Kroatien und dem neuen Einfluss kapitalistischer Bildwelten.«

Eigentlich, erzählt Turato weiter, hätten ihre Performances immer schon eine heilende Wirkung auf sie gehabt. Heilend sei vor allem die Arbeit mit ihrer Stimme. »Es geht darum, beim Sprechen die Kehle locker zu lassen.« In der Schau im Brücke-Museum präsentiert Turato eine Audioinstallation, in der es um die Stimme geht. An ihr interessiert die Künstlerin, »dass sie immateriell ist und trotzdem konkrete Informationen über den Körper und das Erlebte enthält«. Im Klang der Stimme überlagern sich Traumata und die Inhalte kapitalistischer Werbeslogans.

Turatos »verrückte Reise der Heilung« scheint nun von einer neuen Zeit abgelöst zu werden, wenn sie ihre Ausstellung bei Sprüth Magers als »Rückkehr in die Realität« beschreibt. Zu sehen ist eine siebenteilige Reihe neuer Glasemaille-Tafeln mit den für Turato typischen Sätzen in einer für die Schau entworfenen Schrift. Diese ist, anders als in den früheren Arbeiten, eine Serifenschrift. »Ich war genervt von dem Modernen und Linearen«, erklärt Turato. Die neue Schrift soll von historischen Anfängen erzählen, wie dem der Individualität und der Werbung, aber nicht in geschliffen serifenloser Manier, sondern in Anspielung auf Ängste und Paranoia. ›this place is sick / always something …‹ verkündet ein Werk in blauen Buchstaben, während der Abgrund dahinter die Betrachtenden in eine schiefe Matrix zieht. Eine andere Arbeit fragt: ›Not yourself? / what have you done to yourself?‹ Dargestellt sind diese Aussagen und Fragen auf Rastern, die an Vektorgrafiken der 80er erinnern und Tunnel mit zentralen Fluchtpunkten oder Formen in kräftigen Farben zeigen. Galt das Raster in Zeiten der Einführung des Computers als optimistisches Symbol für die Schaffung eines futuristischen Raums voller Möglichkeiten, so beschreibt es hier eine Zukunft, die es vielleicht nie gab.

Ihr Schaffen ist geprägt durch die Zeit nach dem Krieg in Kroatien

Was die Sätze in der Schau bei Sprüth Magers eindeutig von denen unterscheidet, die sonst in Turatos Arbeiten zu lesen sind: Keiner von ihnen stammt aus dem Internet, zumindest nicht direkt. Die Künstlerin erzählt, dass sie während ihres Heilungsjahres angefangen habe, sehr lange zu joggen, bis zu drei Stunden. »Nach so einem Lauf kamen mir die Sätze wie Epiphanien.« Wenn die Künstlerin von ihren Therapien und Heilungspraktiken berichtet, bleibt unklar, ob sie mit ihnen Symptome behandeln wollte, oder ob sie ihr von Anfang an dazu dienten, ihr künstlerisches Schaffen in eine neue Richtung zu treiben. Letzteres hat sie geschafft. Mit ihren neuen Werken stellt Turato nicht nur die Absurdität und zuweilen die Poesie der gesellschaftlichen Imperative aus, sondern führt gleichzeitig überzeugend vor, dass sich durch Reflexion und Aneignung der sprachlichen Mittel des Kapitalismus alternative Welten—vergängliche und dauerhafte—schaffen lassen.

Not Your Usual Self?
Galerie Sprüth Magers
16 SEP bis 11 NOV 2023

Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit
Brücke-Museum (mit Turatos Audioarbeit) und Schinkel Pavillon
14 SEP 2023 bis 7 JAN 2024