»Das Museum ist ein Körper«

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Im Gespräch. In den KW zeigt Clémentine Deliss Werke, die am Anfang der Karriere von Künstlerinnen standen

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

Clémentine Deliss hinterfragt nicht nur Museen und Sammlungen, sondern auch die Grenzen der Disziplinen. Seit 2020 ist sie assoziierte Kuratorin an den KW (Institute for Contemporary Art) in Berlin. Mit ihrer Schau ›Skin in the Game‹ mit Arbeiten der Künstlerinnen Ruth Buchanan, Otobong Nkanga, Collier Schorr, Rosemarie Trockel, Joëlle Tuerlinckx und Andrea Zittel beschließt sie ihre dortige Zeit. Zuvor war Deliss ab 2010 Direktorin des Frankfurter ›Völkerkundemuseums‹, das sie in Weltkulturen Museum umbenannte, wegen einer Lappalie kündigte man ihr 2015 fristlos. Später erklärte ein Gericht die Kündigung für nichtig. Eigentlich wollte man Deliss aus anderen Gründen loswerden. Mit ihren Neuerungen war die Kuratorin schlicht einige Jahre zu früh. Man war noch nicht bereit für dekoloniales Denken. Seitdem besetzt Deliss mit ihrer kuratorischen Plattform namens Metabolic Museum-University (MM-U) Ausstellungen. Die Kuratorin will das Museum als Ort der Forschung für alle zugänglich machen. Im Gespräch erklärt Deliss, was der Stoffwechsel mit dem Museum zu tun hat, warum sie in der Schau in den KW von ihr so bezeichnete Prototypen zeigt und was Kunst mit Risiko zu tun hat.

der Freitag: Frau Deliss, für Ihre Ausstellung ›Skin in the Game‹ haben Sie mit Ruth Buchanan, Otobong Nkanga, Collier Schorr, Rosemarie Trockel, Joëlle Tuerlinckx und Andrea Zittel sechs Künstlerinnen eingeladen, Werke aus ihrem frühen und heutigen Schaffen zu zeigen. Haben Sie sich absichtlich nur für weibliche Künstlerinnen entschieden?

Clémentine Deliss: Ja, ich wollte mit Frauen in meinem Alter arbeiten, um zu verstehen, an welchem Punkt unseres Studiums wir uns dazu entschieden haben, uns mit der Kunst zu professionalisieren. Ich habe nicht Kunstgeschichte, sondern freie Kunst in Wien in den frühen 80ern studiert. Für mich gab es damals kaum weibliche Vorbilder. Natürlich gab es tolle Künstlerinnen wie Judy Chicago, Mary Kelly oder VALIE EXPORT. Aber wenn man nicht in diese Richtung gehen wollte, war man auf die meist männlichen Konzept- und Minimalismuskünstler angewiesen. In der Schau geht es um den Auslöser für den Moment des Nichtzurückkönnens, den Eintritt in die Unterwelt des Kunstschaffens. War es ein Spaziergang oder vielleicht ein Kunstwerk? Ein Film? Ein Gespräch?

dF: Der Titel ›Skin in the Game‹ ist eine Metapher aus dem Finanzbereich. Gemeint ist das Treffen einer risikoreichen Entscheidung, von deren Konsequenzen man persönlich betroffen sein wird. Geht es in der Ausstellung auch um ökonomische Aspekte des Kunstschaffens?

CD: In erster Linie beziehe ich mich mit der Metapher ›die Haut ins Spiel werfen‹ auf die Professionalisierung mit der Kunst und das existenzielle Risiko, das damit einhergeht. Heutzutage sind die meisten Studiengänge so aufgebaut, dass man nach dem Abschluss genau das wird, was man studiert hat. In der Kunst ist das nicht so. Die Existenzsicherung ist extrem schwer für Kunstschaffende. So gesehen gibt es schon einen ökonomischen Aspekt. Was interessiert Sie an dieser Entscheidung für die Kunst? Sie ist verknüpft mit einem bestimmten Moment im Schaffen. Meist mit einem spezifischen Kunstwerk. Dieses steht für den Anfang einer Karriere, das Risiko, aber auch für Schlüsselaspekte, die bereits in diesem ersten Werk enthalten sind und während der Karriere einer Künstlerin wiederkehren. Diese erste Arbeit, mit der eine Künstlerin ›ihre Haut ins Spiel wirft‹, nenne ich Prototyp. Persönliche Gespräche mit den sechs Künstlerinnen haben die Auswahl der Prototypen ergeben.

dF: Und diese Prototypen sind in der Schau zu sehen?

CD: Genau. Zusätzlich zu den Prototypen gibt es bei einigen Künstlerinnen eine Gegenüberstellung mit einer aktuellen Arbeit. Von der Fotografin Collier Schorr zum Beispiel, 1963 in New York geboren, ist eine vergrößerte Maquette ihres ersten Buchs zu sehen, Jens F. (1991), und daneben Collagen, die ihre aktuelle Arbeit dokumentieren. Schorr hat sich kürzlich, mit 58 Jahren, dazu entschieden, Ballett zu machen. Für dieses neue Werk hat sie Szenen aus dem Film Ich, du, er, sie (1974) von Chantal Akerman in der Form eines Ballettstücks mit Tänzern und Tänzerinnen nachempfunden. Joëlle Tuerlinckx ist einige Jahre vor Schorr, 1958 in Brüssel, geboren. Ihr erstes Werk, mit dem sie den Schritt ins Professionelle gewagt und ›ihre Haut ins Spiel geworfen‹ hat, war ein Fehler: ein Fleck an der Wand, den
sie nicht übermalt hat. Das war für ihre erste öffentliche Ausstellung. Tuerlinckx macht mit mir das, was ich Choreografie der Ausstellung nenne, also die Inszenierung der Werke.

dF: Wie überschneiden sich Ihre kuratorische und die künstlerische Praxis von Joëlle Tuerlinckx?

CD: Wir arbeiten beide mit dem, was da ist. Tuerlinckx macht das mit Überresten von Ausstellungen und mit Flecken, die eigentlich nicht in den Ausstellungsraum gehören.

dF: Seitdem Sie 2015 das Weltkulturen Museum verlassen haben, haben Sie immer wieder kurzfristig Ausstellungen besetzt.

CD: Ja, dazu gehören die ›metabolischen‹ Stühle, mithilfe derer man eigene Projektionen an die Museumswände zwischen die Gemälde und Exponate werfen kann. Für ›Skin in the Game‹ habe ich die Reste der vorherigen Schau von Karen Lamassonne übernommen. Das Besetzen dieser Überreste ist politisch. Wir leben in einer Kriegszeit und können nicht davon ausgehen, immer das Geld zu haben, Ausstellungsräume in den ›Urzustand‹ des White Cube zurückzuversetzen. Dazu kommt mein Konzept der ›nachbarschaftlichen Abneigung‹.

dF: Was meinen Sie mit ›nachbarschaftlicher Abneigung‹?

CD: Ich möchte weg vom ›sauberen‹ Ausstellungsmachen. Die Künstlerinnen werden nicht jede für sich, klar voneinander durch Wände getrennt, präsentiert. Ich spiele mit irritierenden Überschneidungen, sodass man sich fragt: Ist das jetzt ein Werk von Trockel oder Zittel?

dF: Seit drei Jahren ist Ihre Metabolic Museum-University (MM-U) in den KW angesiedelt. Ihre Idee des Museums der Zukunft besteht darin, Sammlungen als Forschungsstätten zugänglich zu machen. Da die KW über keine eigene ständige Sammlung verfügen, mussten Sie Ihren Ansatz hier anpassen. Welche Projekte haben Sie im Rahmen der MM-U an den KW umgesetzt?

CD: Die Idee war, unterschiedliche Kunstsammlungen in Berlin zu besuchen, von privaten über Forschungssammlungen bis hin zu jenen, die man in den Kiezmuseen
Berlins findet. Covid verunmöglichte dieses Projekt. Trotzdem konnten wir es 2020 einmalig austesten. Wir haben Artefakte und Kunstwerke aus Sammlungen ausgewählt und in einer kurzfristigen Assemblage in der Schau von Hassan Sharif in den KW präsentiert.

»Bis heute sind die Sammlungen der Museen nicht fertig interpretiert«

CD: Dann habe ich Künstler*innen und Denker*innen unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, über diese Assemblage zu diskutieren und dadurch einen Schritt in Richtung einer transversalen Methodologie zu machen. Mit Beginn der Pandemie haben wir, anstatt andere Sammlungen zu besuchen, den Fokus auf zwei Aspekte gelegt: Was sind die Protoypen in unserem eigenen Schaffen? Und inwiefern sind Sammlungen umstritten?

dF: Und inwiefern sind sie das? Wie lautet Ihre Kritik am Umgang mit Sammlungen?

CD: Museumssammlungen sind bis heute nicht fertig interpretiert. Die Dekolonialisierung darf nicht nur über die Provenienzforschung laufen, sondern die Bildungsstrukturen und die Grenzen der Disziplinen müssen hinterfragt werden. Das Verständnis, Kunstgeschichte analysiere nur auf kunsthistorische Weise und Ethnologie nur auf eine ethnologische, widerspricht den heutigen transversalen Bestrebungen in der Forschung. Das sind diskursive Grenzen, die in imperialen und kolonialen Zeiten gesetzt wurden. Während der Laufzeit von ›Skin in the Game‹ gibt es in den KW öffentliche Diskussionen zu umstrittenen Sammlungen sowie zu Emanzipation und Transgression.

dF: Was hat das Metabolische, der Stoffwechsel, mit Ihrer Idee der Museumsuniversität zu tun?

CD: Das Wort ›Organ‹ kommt aus dem Publizistischen, man denke an ›Druckorgane‹. Wenn Künstler*innen merken, dass die Vermittlung ihrer Arbeit konservativ wird,
entwickeln sie oft eigene Publikationsorgane. Dieses neue Organ muss nicht zu einem fixen Zeitpunkt erscheinen. Es ist vital. Auch das Museum ist ein Körper. Ich betrachte es als Sammlungskörper. Zudem befinden sich im Museum die Körper der Besuchenden, die die meiste Zeit stehen müssen und somit ergonomisch schwach sind.

dF: Es wird unterschätzt, wie anstrengend es körperlich ist, längere Zeit im Museum zu verbringen.

Deshalb gibt es als Teil der MM-U die ›metabolischen‹ Stühle, und es gilt mein Motto, dass es keiner Abschlussprüfung bedarf, um das Museum zu betreten. Mit ›Skin in the Game‹ besteht das Metabolische auch in der Idee der Ausstellung als Körper, in der jeder Prototyp ein Organ bildet. Die Lebendigkeit von Material und Erfahrung interessiert mich mehr als statische, befehlsmäßige Wandtexte.

›Skin in the Game‹ KW
14 SEP 2023 bis 7 JAN 2024

 


Clémentine Deliss ist assoziierte Kuratorin an den KW, freie Verlegerin und Professorin an der Universität Cambridge. 2020 ist ihr Buch Metabolic Museum erschienen, in dem sie über ihre Erfahrungen als Direktorin des Weltkulturen Museums in Frankfurt am Main schreibt.

Otobong Nkanga, Footpitch, 1999, Courtesy of the artist