Der Körper als Computer

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Porträt. Im Werk des jungen Künstlers Thomias Radin verschmelzen Malerei, Tanz und Performance. Das KINDL zeigt seine Arbeiten

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

Es gibt im Kreolischen den Begriff ›Tchouboum‹. Er beschreibt den Moment, wenn jemand ins Wasser springt—eine Lautmalerei. In dem Wort bündeln sich die Bewegung, die Stofflichkeit, der Klang—und auch ein Bild. Das Verbreitungsgebiet des Begriffs in der Karibik und in Westafrika verweist auf die historischen Verschleppungs- und Umwälzungsbewegungen des transatlantischen Sklavenhandels. ›Tchouboum‹ dient als Wegweiser in das Werk des multidisziplinär arbeitenden Künstlers Thomias Radin, für den genau dieses Ineinander von Bewegung, Stofflichkeit, Klang und Bild entscheidend ist.

1993 in Guadeloupe geboren und zwischen Frankreich und der Karibik aufgewachsen, lebt und arbeitet Radin nun in Berlin. Für den Künstler spielt vor allem die Bewegung eine zentrale Rolle—ob in der Malerei, im Tanz oder in seinen klangvollen Performances, für die er mit anderen Künstlern zusammenarbeitet: »Ein Medium evoziert das nächste. Es begann mit der Malerei, die zum Tanz führte«, erzählt Radin im Videointerview. Durch die Verbindung beider entstanden schließlich seine Performances.

So wie Radin sich nicht auf ein einziges Medium festlegen mag, schlägt auch die Ausstellung ›POLY. A Fluid Show‹ im KINDL (Zentrum für zeitgenössische Kunst) eine neue, polyzentrische Kultur vor, die sich von dem Fokus auf das Eine, also von der Monokultur wegbewegt.

Die Schau ist Teil einer erstmaligen Kooperation des KINDL mit der Galerie Wedding. Letztere zeigt unter dem Motto POLY noch zwei Ausstellungen. Ein Performancefestival lief bereits, sowie eine Schau: Radins Einzelausstellung Polychrome. Der Mythos von Karukera und Cibuqueira war von Mitte Juni bis Ende August dort zu sehen. Sie bildete den Auftakt der Ausstellungstrilogie und bot den Rahmen für das Programm des Performancefestivals. Anknüpfend an diese von Malte Pieper kuratierte Einzelschau präsentiert Radin nun drei Werke in der Gruppenausstellung ›POLY. A Fluid Show‹.

Für diese Schau im KINDL versammelt Kuratorin Solvej Helweg Ovesen elf internationale Künstler*innen, die sich entgegen der Fixierung des Globalen Nordens auf das Suffix Mono, das Einzelne und Individuelle, mit Polyzentrismus beschäftigen. So wie Radin arbeiten auch die anderen in der Gruppenausstellung vertretenen Künstler*innen—Cibelle Cavalli Bastos, melanie bonajo, Elolo Bosoka, Kerstin Brätsch, Raquel van Haver, Toni Mauersberg, Na Chainkua Reindorf, Lorenzo Sandoval, Emma Talbot, Mikey Woodbridge—1ausgehend von der Malerei multidisziplinär.

Im KINDL zu sehen sind Radins Gemälde The Annunciation: Tout’ Moun doubout`, An nou ay!, sein Film Rival sowie die Tanzperformance The Myth of Trinity II, für die er mit dem Klangkünstler Maxime Rogron alias Delawhere, dem Percussionisten Bruno Thénard und dem Tänzer Andrège Bidiamambu zusammenarbeitet.

Auch diese Werke Radins zeigen: Es ist ein In-sich- und Aus-sich-Gehen, ein permanenter Kreislauf, der sein Arbeiten prägt. Jedes künstlerische Werk dient ihm als Grundlage für das nächste. Sein OEuvre erhält so den Charakter einer fortwährenden Studie. Radin rückt dabei Intuition, Intimität und Verletzlichkeit in den Fokus seines Schaffens und setzt seine persönlichen Erfahrungen in Bezug zu historischen Ereignissen.

Die vorkolonialen Namen

Die meisten Gemälde Radins erinnern an frühe Formen des Films. Der Brite Eadweard Muybridge begann 1887 mit Serienfotos eines galoppierenden Pferdes seine Studien tierischer und menschlicher Bewegungsabläufe. Radin animiert seine Figuren auf der Leinwand durch dynamische Pinselstriche, ineinander verschlungene Schwarze Körper, die durch ihre fehlenden Gesichter immer wieder Leerstellen lassen und zur eigenen Fortsetzung der Narration einladen.

Der Künstler folgt dabei einer Technik des Samplings, er seziert dafür die Bewegungsabläufe seiner Performances, die er mit einer Kamera filmt. »Langsam fragmentiere ich die Bewegung, Sekunde für Sekunde, Bild für Bild«, erklärt Radin. Manchmal entstehen dabei auf Grundlage von Standbildern aus den Filmen seiner Performances gemalte Collagen, erzählt der Künstler. Wichtig sind ihm dabei vor allem die Auslassungen, die fehlenden Bewegungen zwischen zwei Standbildern, denn hier kann er improvisieren.

Radin stellt seinen Bildern keine detaillierten Skizzen voran, sondern nur grobe Umrisse. Er sagt: »In unserer modernen Zeit und angesichts des technischen Fortschritts geht alles schneller. Ich gehe in meiner Kunst sozusagen rückwärts und betrachte meinen Körper als eine Art Computer. Indem ich das tue und keine technischen Hilfsmittel benutze, verbessere ich mich ständig.« Und er fügt hinzu: »Ich muss meinem Körper, meinen Händen vertrauen.«

Sieht man seine Werke, lässt sich diese Aussage nachvollziehen. Radin weiß seinen Körper einzusetzen. Die Tatsache, dass er die Kamera als technisches Hilfsmittel zur
Dokumentation seiner Bewegungen braucht, unterschlägt Radin aber an dieser Stelle im Gespräch.

Vielleicht lässt sich darin, dass der Künstler manche Details aus seinen Erzählungen weglässt, bereits Radins Faszination für Mythen erkennen. Wie der Titel verrät, ging es auch in seiner Einzelausstellung Polychrome. Der Mythos von Karukera und Cibuqueira in der Galerie Wedding darum. Radin interpretiert diesen Mythos als Wandbild. Karukera, ›Insel der schönen Gewässer‹, und Cibuqueira, ›Insel der Gummibäume‹, waren bis zur Ankunft von Christoph Kolumbus 1493 die Namen der beiden Hauptinseln Guadeloupes. Radin verwendete die vorkolonialen Namen der beiden Inseln in der Schau als Metapher für die Macht und Bedeutung von Mythen. Wandmalereien, erzählt er, begleiteten ihn seit seiner Kindheit in den Vororten in Frankreich, ob als Auftragsarbeiten oder illegal.

»Ich betrachte mich als einen der Engel im Wandbild, als tanzenden Boten Gottes«

In der Einzelausstellung in der Galerie Wedding zog einen die begleitende Klanginstallation Love Where All Space von Maxime Rogron alias Delawhere, ein langjähriger Wegbegleiter Radins, noch tiefer in das Wandbild hinein. Es trägt denselben Titel wie die Ausstellung und zeigt zwei Engel, die von altarähnlichen Architekturen aus aufeinander zuzufliegen scheinen. In der Bildmitte verschmelzen die beiden Engel zu einer Figur, ihre Köpfe sind nicht mehr Der Körper als Computer Porträt Im Werk des jungen Künstlers Thomias Radin verschmelzen Malerei, Tanz und Performance. Das KINDL zeigt seine Arbeiten zu erkennen und wirken wie in den blauen, schmalen, senkrecht verlaufenden Himmelsstreifen hineingesogen. Über und unter dieser Szene steht ›AN Ô– KO AN BA‹, was aus dem Kreolischen übersetzt, ›wie oben, so unten‹ bedeutet. Radin erklärt: »Die Welt funktioniert wissenschaftlich und spirituell nur zwischen diesen beiden Polen. Wir leben in ständigen Spannungsverhältnissen.« Diese lotet der Künstler in seinen Arbeiten aus. Für Radin sind die Inseln Karukera und Cibuqueira wie zwei gefallene Engel—auf der Suche nach ihrer Vereinigung. Im Gespräch mit Kurator Malte Pieper formulierte er es so: »Sie stehen für den nie endenden Kampf in uns selbst, für unser nie endendes Streben nach Einheit und Transzendenz und für die transformative Kraft der Bewegung, die uns mit uns selbst, miteinander und mit der Welt um uns herum verbindet.«

Die Kulisse der Schau in der Galerie Wedding bestimmten Gegenstände wie ein Koffer auf einem gepolsterten Holzhocker, Palmen auf marmorierten Sockeln und bemalte Fließen. »Es handelt sich dabei um gefundene Gegenstände«, kommentiert Radin die Szenerie. Sie wirken wie mythische Artefakte des Alltags. Wo wurden sie gefunden, wem gehörten sie, welche Leben begleiteten sie, bevor sie in der Galerie als Kunst ausgestellt wurden? Mythen erzählen die Geschichten dazu. Sie können Antworten geben, aber sie können auch täuschen. In jedem Fall üben sie eine Macht aus. Neben den materiellen Werken in der Galerie im Wedding nahm Radin den Raum mit Tanzperformances seines Alter Egos Lazy Bird ein. Diese Performances bestehen aus ›polychromen‹ Vermischungen von Hip-Hop, Gwo Ka—eine für Guadeloupe typische Musik- und Tanzkultur—House Dance, Ballett und der afro-brasilianischen Kampfsportart Capoeira. Durch das Verflechten der unterschiedlichen Stile unterlaufen seine Performances die eigentlichen Regeln und Grenzen dieser Tanztechniken. Das Adjektiv ›polychrom‹, aus dem Griechischen abgeleitet, bedeutet ›viele Farben‹ und bezeichnet im Französischen wie im Englischen eine Vielzahl von Schattierungen und Texturen. Es kann sich aber auch auf einen Polyrhythmus beziehen, nicht nur von Medien und Pinselstrichen, sondern auch, wie in diesem Fall, von Techniken. Radins Lazy Bird kann nicht fliegen. Stattdessen bewegt er sich in abrupten, mechanischen Bewegungen, die immer wieder in harmonischere Bewegungsflüsse übergehen, manchmal scheint er sogar zu schweben. Zu Beginn seiner letzten Performance, in der Radin als Lazy Bird in der Galerie Wedding auftrat, mit dem Gesicht einem der Altäre zugewandt, seine Arme ausgebreitet und zum Sprung ansetzend, wirkte er wie ein Spiegelbild der Engelsfigur aus seinem Bild. Und Radin bestätigt diesen Eindruck: »Ich betrachte mich als einen dieser Engel im Wandgemälde, als tanzenden Boten Gottes.« Sowohl in seinem Film Rival als auch in der Performance ›The Myth of Trinity II‹ im KINDL kehren die Engel Karukera und Cibuqueira zurück. Das ebenfalls in der Schau präsentierte Gemälde Announciation: Tout‘ Moun doubout`, An nou ay! erinnert aufgrund seines Formats als Triptychon an christliche Darstellungen der Mariä Verkündigung und verweist auf die katholische Erziehung des Künstlers. Radin malte über ein Jahr an dem Bild und beschreibt die Arbeit daran als erlösend. Der Ausspruch ›An nou ay!‹ bedeutet: Lass uns aufbrechen! Und so versteht Radin das Werk: »Mein Gemälde beschreibt ein Ziel für die Zukunft.«

POLY. A Fluid Show
KINDL—Zentrum für zeitgenössische Kunst, Maschinenhaus M2
17 SEP 2023 bis 25 FEB 2024

© Thomias Radin