Der Wind wehte westlich

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Archivarbeit. Mit der Schau ›If the Berlin Wind Blows My Flag‹ hinterfragt das Berliner Künstlerprogramm erstmals die eigene Geschichte

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

Das Berliner Künstlerprogramm (BKP) des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) gilt als eines der angesehensten Residenzprogramme für Künstler*innen aus aller Welt. Dass das BKP vor dem Mauerfall mit Stipendiaten und Stipendiatinnen wie Joan Jonas, Maria Lassnig oder Bridget Riley eindeutig mit politischen Zielen verbunden war, zeigt nun die Schau ›If the Berlin Wind Blows My Flag‹. Die Kuratorinnen Nóra Lukács und Melanie Roumiguière präsentieren ihre Einblicke hinter die Kulissen des BKP an drei Ausstellungsorten: im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.), in der Galerie im Körnerpark und in der daadgalerie. Die ausgestellten Archivalien des Programms und die Werke legen offen, wie ein enger Kreis an (meist männlichen und weißen) Personen die künstlerische Szene in West-Berlin damals maßgeblich beeinflusste.

Als die Kuratorin Melanie Roumiguière 2018 ihre Stelle als Leitung der Sparte Bildende Künste des BKP antrat, nahm sie sich als Erstes vor, das Archiv zu digitalisieren. Um diese Zeit wurde sie von Lukács kontaktiert, die als Lehrbeauftragte und Doktorandin an der Humboldt-Universität die Bedeutung West-Berlins für Künstler*innen aus Ost-Europa in den 70er und 80er Jahren erforscht. So entstand die gemeinsame Arbeit an dem Projekt, das sich aufgrund der interessanten Forschungsergebnisse schnell auch in ein Ausstellungsprojekt entwickelte. Aufgrund der Menge an Entdeckungen teilten Roumiguière und Lukács die Schau in drei Kapitel.

Klare politische Agenda

Die Exponate in der daadgalerie beschäftigen sich mit der Entstehungsgeschichte des BKP. Mit dem Schlagwort, West-Berlin vor der ›kulturellen Isolation‹ bewahren und deshalb internationale Kulturschaffende in die Stadt holen zu wollen, gründete die US-amerikanische Privatstiftung Ford Foundation 1963 das BKP. »Eine den Alliierten angebundene Organisation«, erklärt Roumiguière und fährt fort: »Ich würde sagen, dass die ursprünglich kommunzierte Internationalisierung gezielt politisch war. Der Propagandagedanke war maßgeblich.« So habe man den Künstler*innen in den ersten Jahren mehr Geld gezahlt als später. »Sie wurden quasi eingekauft, um das Programm zu aktivieren.« Die politische Agenda sei auch später wichtig gewesen, stimmt ihr Lukács zu: »Jemanden aus Ost-Europa in der Zeit nach dem Berlin-Abkommen mit den Bundesmitteln aus Bonn nach West-Berlin einzuladen, war natürlich eine Provokation.«

Die Schau in der Galerie im Körnerpark widmet sich Agnes Denes, deren Korrespondenzen im Archiv erstaunlicherweise offenlegten, dass die Künstlerin ihre Residenz 1978 in West-Berlin gar nie antreten konnte. »Es wurde 50 Jahre lang so getan, als wäre Denes hier in Berlin gewesen«, erklärt Roumiguière. Die seit 1978 erste deutsche Einzelschau der US-amerikanischen Künstlerin spürt unter dem Titel ›Agnes Denes. Early Work‹ den Ideen nach, die sie ursprünglich für das nie zustande gekommene Stipendium entwickelt hatte, und zeigt Fotografien und Zeichnungen, die Denes’ Auseinandersetzung mit Wissenschaft, Natur und Körperpolitik deutlich machen.

Roumiguière erzählt, dass die beiden dem Schriftverkehr auch haben entnehmen können, dass Denes einen Film geplant habe, für dessen Umsetzung der DAAD aber die technischen Mittel nicht bereitstellen habe können. Obwohl Denes lange hartnäckig blieb und ihren Aufenthalt nachholen wollte, blieb ihr dieser verwehrt, genauso wie das Netzwerk vor Ort. Zu diesem Netzwerk gehörten auch die Entscheidungsgeber bei der Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten. Auf die Frage nach den Mitgliedern der Jury in den 70er und 80er Jahren antwortet Roumiguière: »Die Jury bestand mit wenigen Ausnahmen aus—teils alt gewordenen—weißen Männern«, und zählt unter anderem ihren Vorgänger und Galeristen René Block, den Kurator Kasper König, das Gründungsmitglied der Berlinischen Galerie Eberhard Roters sowie den ehemaligen Direktor der Neuen Nationalgalerie Werner Haftmann, auf. Der Kurator, dessen Nazi und Kriegsverbrecher-Vergangenheit 2021 in einer Ausstellung über die Geschichte der Documenta im Deutschen Historischen Museum öffentlich gemacht wurde, war von Anfang an Jurymitglied, fällte bis zu seiner Pensionierung 1974 Entscheidungen für das Programm und nutzte das BKP Geld aus Bonn für seine eigenen Ausstellungen der Stipendiaten/Stipendiatinnen. »Über den Einfluss von Werner Haftmann hat das BKP noch nie öffentlich gesprochen«, sagt Roumiguière. Die Offenlegung der vergangenen Jurybesetzungen ist ein wichtiger Schritt für das BKP, denn die Entscheidungsprozesse wurden vor 2018 nie transparent gemacht. »Es war eine orchestrierte Konstellation«, kommentiert Roumiguière ihren Eindruck aus den Archivalien. »Vielleicht haben Herkunft und Hautfarbe bei den Entscheidungen eine Rolle gespielt«, sagt sie und fährt fort: »Wie bewusst das passiert ist, darüber kann man reden, aber bei so eindeutigen Beispielen wie Haftmann ist das aus heutiger Perspektive indiskutabel.«

Auch Fragen zu Gender und dem Kunstbegriff haben die Kuratorinnen aufgearbeitet. Bei ihren Nachforschungen zur Stipendiatin Yvonne Rainer, einer amerikanischen Choreografin, Tänzerin und Filmemacherin, die von Kasper König ins Rennen geschickt worden war, fanden Lukács und Roumiguière heraus, dass die Jury fest mit einer Arbeit im Medium Tanz rechnete, obwohl die Künstlerin vorhatte, einen Film zu produzieren: »Yvonne Rainer musste wirklich Überzeugungsarbeit leisten, um das machen zu können, was sie wollte. Für den sogenannten Freihafen, der geschaffen werden sollte, hat es vor allem für Künstlerinnen nicht dieselben Regeln gegeben wie für ihre männlichen Kollegen«, kommentiert Roumiguière, und Lukács ergänzt: »Man muss wissen, dass es für die Sparte Bildende Kunst keinen freien Bewerbungsprozess gab und man sich empfehlen lassen musste.«

Hautfarbe und Herkunft hätten bei den Jurysitzungen wohl eine Rolle gespielt

Dabei habe sich ein Kunstbegriff etabliert, der einige Personengruppen aus der Kunstwelt ausgeschlossen habe. »Es gab in den Unterlagen den Kommentar von Eberhart Roters, dass er mit der Kunst aus anderen kulturellen und geografischen Bereichen nichts anfangen könnte. Deswegen wollte man den Kreis potentieller Bewerber*innen so weit eingrenzen, dass nur Künstler*innen infrage kamen, die sowieso dem Kunstbegriff der Jury entsprachen«, erklärt Lukács.

Das Hinterfragen des Kanons ist inzwischen Teil der Jurysitzungen des BKP. Auch die digitale Aufarbeitung des Archivs ist in vollem Gang. Das Ausstellungsprojekt zeigt nun erstmals öffentlich diese schonungslose Auseinandersetzung des Programms mit sich selbst und ist somit ein Schritt in die richtige Richtung.

Dass sich die Besucher*innen in den drei Schauen nicht nur kritisch mit dem BKP beschäftigen können, sondern neben neuen Arbeiten—etwa von Kasia Fudakowski oder Isaac Chong Wai im n.b.k.—auch über lange Zeit in Lagern vergessene Werke, wie solche der Malerin Maija Tabaka aus der ehemaligen UdSSR oder der britischen Op- Art-Künstlerin Bridget Riley, entdecken können, ist ein Geschenk.

If the Berlin Wind Blows My Flag
n.b.k. und daadgalerie
14 SEP 2023 bis 14 JAN 2024
Galerie im Körnerpark
9 SEP 2023 bis 14 JAN 2024