Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.
Seltsam unangepasst wirkt die Schau ›Luc Tuymans—Edith Clever‹ in der kulturellen Momentaufnahme der diesjährigen Berlin Art Week. Wo andere Ausstellungshäuser, dem Gebot der Stunde folgend, postkoloniale Geschichten erzählen und sich um die rehabilitierende Inklusion nichtwestlicher Perspektiven bemühen—wie etwa die nGbK mit House of Kal—, und während Eva Fàbregas mit ihren Riesen-Blobs im Hamburger Bahnhof eine Ästhetik, die auf Instagram unter #oddlysatisfying floriert, mit der Seriosität der Minimal Art vermählt, da erscheint der Beitrag der Akademie der Künste am Pariser Platz verhältnismäßig aus der Zeit gefallen. Der erste Eindruck: Bilder, die ihre Motive nicht zu erkennen geben, und Modulationen von Stille, die zwischen konzentriert, magisch und bedrückend changieren. Wer in dieser Schau nicht leer ausgehen will, muss dem Ungesagten einen Resonanzraum in sich schaffen.
Die Ausstellung ›Luc Tuymans—Edith Clever‹ erzeugt ein Kraftfeld zwischen zwei Polen, zwei künstlerischen Disziplinen und mithin zwei Charakteren: einem belgischen Maler und einem Urgestein der Berliner Schauspielgeschichte, deren Werke die Kunst- und Theaterhistorie des späten 20. Jahrhunderts mitprägten. Allerdings gibt es in dieser Schau noch einen leicht zu übersehenden Dritten, der im Titel nicht vorkommt, aber für einige der präsentierten Werke subtil den Ton setzt: der Ausstellungsraum selbst, dessen wechselnde Funktionen eine bewegte Geschichte erzählen. Inmitten der Glaskonstruktion der heutigen Akademie der Künste ist die von Kuratorin Angela Lammert bespielte Architektur nämlich selbst ein architektonisches Relikt (ein Überbleibsel des alten Palais Arnim), das durch die beziehungsreiche Ausstellung als Zeitzeuge aktiviert werden soll.
Empfundene Nachbilder
Es gilt also die Ohren zu spitzen. Im Foyer der Akademie murmelt, zischelt und raunt es. Genoël von Lilienstern komponierte die Klanginstallation Stimmbänder eigens für die Ausstellung mittels KI. Es ist die Stimme der Clever—der dunklen, ab- und tiefgründigen Sprachvirtuosin und Meisterin entrückender Monologe.
Damit ist der Ton für das, was einen drinnen erwartet, präzise gesetzt. Denn sowohl die auratischen schwarz-weißen Videoloops der Auftritte Clevers als auch die rätselhaften Gemälde Tuymans’ suchen etwas aufs Äußerste zu verdichten. Dabei betreiben beide eine derart asketische Reduktion der Mittel, dass man, zumindest ohne die nötige Geduld, zunächst annehmen könnte, da sei—nichts.
In den Malereien Tuymans’ kann man sich nie sicher sein, was man sieht. Das Figurative oszilliert ins Abstrakte. Und selbst wo sich etwas zu erkennen, oder der Bildtitel einen Wink gibt, will sich zwischen den Bildern kein Narrativ fügen. Wie Tuymans in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte, ist ein Bild für ihn gelungen, wenn es einen Eindruck hinterlässt, ohne sich ganz zu erschließen. Das Eigentliche sind für ihn die Nachbilder, die wir mit uns davontragen. Und sind diese nicht weniger visueller als empfundener Natur? Zurückgeworfen auf die verhaltenen Stimmungen dieser leichenblassen Kompositionen ist man aber in der Tat schon auf der richtigen Fährte. Tuymans’ Farbwerte, die mal an das Sepia alter Fotografien und mal an die Blautöne verblichener Plakate erinnern, deuten auf die fotografisch-filmischen Quellen, denen der Künstler seine Motive entlehnt—und damit auf eine den Malereien vorgängige Bildwelt. Mit dieser Methode lässt sich Tuymans zu einer Riege von Künstlern zählen, die das Fotografische mit malerischen Mitteln reflektieren. So verewigte Gerhard Richter Motive aus Tageszeitungen, Illustrierten und Pressearchiven durch ihren Transfer ins Medium der Malerei. Und auch der deutlich jüngere Martin Dammann arbeitet sich mit seinen monumentalen Aquarellen am fotografischen Erbe einer spezifisch deutschen Geschichte ab.
Im Vergleich zu diesen Künstlern bleibt Tuymans enigmatischer: Seine Bildausschnitte wirken zufällig oder gar leer. Gesichter verschwimmen nicht selten, wie überbelichtet, zu weißen Flecken. Im Medium Malerei erscheinen die typischen technischen Mängel des fotografischen Bilds wie Symptome einer lückenhaften Erinnerung.
Quellen seiner Bildmotive können dabei antiquarische Bildbände sein, genauso aber Standbilder aus Youtube-Videos oder Dokumentarfilmen. Tuymans lässt sich in seinen historischen Recherchen von zufällig aufgeschnappten Eindrücken affizieren, in denen sich etwas preisgibt. In seinem Werk beschäftigt er sich mit dem Holocaust und dem belgischen Kolonialismus, aber auch mit abstruseren Manifestationen menschlicher Monstrosität. Zum Beispiel als er den Kannibalen Issei Sagawa malte, der 1981 eine Kommilitonin ermordete und verspeiste, die mit ihm an der Sorbonne vergleichende Literaturwissenschaft studierte. Sagawa erschoss sie von hinten, als sie an seinem Schreibtisch sitzend auf seine Bitte hin für eine Tonaufnahme ein deutsches Gedicht vorlas.
Wenn Tuymans’ Bilder wie Indizien wirken, so konkretisieren sich diese im letzten Saal in den Gemälden Himmler (1998) und Der Architekt (1997/98). Mit Letzterem ist
Albert Speer gemeint. Tatsächlich war der Raum, durch den uns der Ausstellungsparcours führt, in den 1930er Jahren der Ort, an dem Speer als Leiter der Generalbaudirektion seine Visionen für den Umbau Berlins zur nationalsozialistischen Welthauptstadt ›Germania‹ in Form großformatiger Architekturmodelle manifestierte. Hitler ging dort ein und aus und nutzte dafür einen unterirdischen Gang, der direkt vom Reichstag hinüberführte. In Tuymans’ Bild sehen wir den Architekten im Skiurlaub. Und zwar, wie in der Schau näher erklärt wird, kurz nach einer jener lächerlich bürokratischen Gräueltaten, die Hannah Arendt dazu bewogen, von der ›Banalität des Bösen‹ der NS-Funktionäre zu sprechen.
Neben dem eisschrankartigen Unterdruck-Klima dieser Bilder erzeugen die in die Ausstellung eingestreuten Videoclips Clevers eine regelrechte Emphase der Präsenz.
Tuymans bannt menschliche Monstrosität mit Vorliebe in unterkühlte Farben
Das von Alex Salinas für die Ausstellung aufgenommene Cinematic Portrait (vergleichbar mit Andy Warhols Screen Tests) ist eine schwarz-weiße, fast statische Videogroßaufnahme des Gesichts der heute 82-jährigen Schauspielerin: hohe Wangenknochen, pergamentene Haut, eine breite Stirn, gerahmt von weißem Haar. Ein sanfter, unerschrockener Blick.
Wenn Albert Speer eine Präsenz in den Räumlichkeiten am Pariser Platz 4 hatte, so ist auch die Biografie Clevers eng mit dem Ort Berlin verbunden. In den 1970ern und 80ern gestaltete die Schauspielerin als Mitglied der Berliner Schaubühne deren avantgardistische Neuinterpretationen des Theatermachens mit. Die Slideshow Nicht mehr. Mehr nicht. Theater- und Filmbilder erschließt diese Geschichte in der Schau mittels Dokumentarfotografien. In den 80ern ging Clever eine kongeniale Verbindung mit dem Regisseur Hans-Jürgen Syberberg ein. Ihren Höhepunkt erfuhr diese Zusammenarbeit in dem Theaterstück Die Nacht (1984), einem Monolog, der sich über aberwitzige sechs Stunden hinzieht. Ein Jahr nach der Uraufführung wurde das Stück verfilmt und ist in Auszügen in der Ausstellung zu sehen.
›Die Nacht‹ legt einen vielstimmigen ›Abschied vom Abendland‹ in den Mund einer einzigen Frau, die uns in einem unbestimmten Raum vor dunklem Grund begegnet. Wie in ein trancehaftes Selbstgespräch versunken, spricht Clever Gedichte, Prosatexte, Briefe, Reden und dramatische Partien von Autoren wie Goethe und Kleist, Hölderlin, Novalis, Shakespeare, Platon und Beckett.
Unheimlich wird es, wenn in Syberbergs Endzeitbilanz wachtraumartige Bezüge zur Gegenwart aufblitzen. Etwa dann, wenn in einem der rezitierten Texte von einem Waldbrand am nächtlichen Horizont die Rede ist, der seinen verheerenden Höhepunkt erreicht, als er ein im Unterholz verstecktes Munitionslager erfasst. Erst kürzlich riefen uns die diesen Sommer auch in Deutschland wütenden Waldbrände die Weltkriegsbomben in Erinnerung, die noch heute in den Böden schlummern.
In ihrer Appropriation überkommener Textpassagen, deren Quellen sich im Verlauf des Stücks höchstens durch Wiedererkennen erhellen, korrespondiert Syberbergs Nacht mit Tuymans’ Verwendung von vorgefundenem, historisch belastetem Bildmaterial. Clever indessen flicht ihre langen Sätze wie Ariadnefäden—und führt uns ins Innere eines zeitlichen Labyrinths, wo die Phantome der Vergangenheit noch immer um keinen Tag gealtert sind.
Luc Tuymans—Edith Clever
Akademie der Künste am Pariser Platz
15 SEP bis 26 NOV 2023