Teil einer größeren Welt

von 

Repression. Was kann Kunst über Krieg erzählen? Die gemeinsame Schau „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ von Brücke-Museum und Schinkel Pavillon zeigt ästhetische Auseinandersetzungen mit Trauma und Zeugenschaft


Dieser Artikel erschien zuerst in der Freitag.

Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bekam Katya Inozemtseva einen Anruf von Nina Pohl, der Direktorin des Schinkel Pavillons. Inozemtseva hatte zuvor ihren Posten als Chefkuratorin am Garage Museum in Moskau, gegründet von dem Oligarchen Roman Abramowitsch und seiner Ex-Partnerin Darja Schukowa, niedergelegt und arbeitete mittlerweile in Mailand. Sie willigte ein, eine Ausstellung im Schinkel Pavillon und im Brücke-Museum in Berlin zu kuratieren. Ihr Titel—›Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‹—spielt auf einen Film von Alexander Kluge an, und die Themen sollen Krieg und Repression sein.

Die Geschichte der beiden Berliner Institutionen ist eng verflochten. Der Kronprinzenpalais, an den Ende der 60er der heutige Schinkel Pavillon angebaut wurde, beherbergte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und bis zum Beginn der kulturpolitischen Repressalien der Nazis die Neue Abteilung der Nationalgalerie. Viele der Werke stammten von Mitgliedern der Künstlergruppe Brücke, einige davon gelangten in die Sammlung des Brücke-Museums. Heute steht der Schinkel Pavillon für die ganz zeitgenössische Kunst. Der oktogonale Bau, in dem Erich Honecker einst Cocktailpartys feierte und Staatsempfänge ausrichtete, ist heute der Ort für Ausstellungen, die Themen durchdenken sollen, bevor alle anderen darüber reden.

Diese doppelte Geschichte, so Inozemtseva im Videotelefonat, sei der Ausgangspunkt der Zusammenarbeit gewesen. Sie versammelt zu gleichen Teilen historische und zeitgenössische Künstler*innen, wobei die Anzahl der Werke aus der Moderne überwiegt. Manche dieser Künstler*innen gaben den modernistischen Imperativ des immer Neuen auf und fingen angesichts drohender Deportationen das Dokumentieren an. So wie Leo Breuer, der in Zeichnungen das Alltagsleben im Internierungslager von St. Cyprien dokumentierte. Korbinian Aigner hingegen, Pastor und Pomologe, zeichnete im Konzentrationslager Dachau Äpfel, als wollte er durch die serielle, beinahe automatisierte Arbeitsweise das Grauen lindern. Die Ausstellung präsentiert außerdem Werke von Felix Nussbaum, der in Auschwitz ermordet wurde, und von Elfriede Lohse-Wächtler, die im Rahmen des Euthanasie- Programms der Nazis zwangssterilisiert und getötet wurde; sie sollen Zeugnis ablegen.

Die ukrainische Videokünstlerin Dana Kavelina beschäftigt sich mit einem kulturellen Artefakt, das buchstäblich zu einer Zeugenaussage wurde, nämlich einem Gedicht
der Lyrikerin Zuzanna Ginczanka, die 1917 in Kiew geboren wurde und in Polen lebte. Ginczanka, die Jüdin war, wurde von einer Nachbarin an die Gestapo verraten, und vor ihrer Ermordung durch die Nazis schrieb sie ein Gedicht, in dem die Lyrikerin den Namen der Frau, die sie verraten hat, erwähnt. Nach dem Krieg wurde der Text in einem Gerichtsprozess verwendet.

So wie Kavelina produzieren die meisten zeitgenössischen Künstler*innen neue Werke für die Schau, so beispielsweise auch die kroatische Künstlerin Nora Turato. »Ich stelle mir auch das als eine Art von Zeugenschaft vor«, sagt Inozemtseva. »Was bedeutet es, Krieg zu erleben? Welche Typen der Zeugenschaft können wir herausarbeiten?« Das sind keine bloßen theoretische Fragen, denn die Kuratorin ist in ständigem Austausch mit Künstler*innen in Kriegsgebieten, in der Ukraine und anderswo.

Nicht in einem Vakuum

Vor einem Jahrhundert, als die Brücke-Mitglieder aktiv waren, gehörte es nicht unbedingt zur Jobbeschreibung Kulturschaffender, über Krieg oder Trauma zu sprechen, und schon gar nicht, sich selbst als Aktivisten/ Aktivistinnen zu verstehen, wie es beispielsweise Lawrence Abu Hamdan oder die Gruppe Forensic Architecture tun, die ebenfalls Installationen in der Schau präsentieren. »Denken wir an ein Regime wie Nazideutschland«, so Inozemtseva, »dann ist Aktivismus von vornherein unmöglich.« Das gelte auch für viele zeitgenössische Künstler*innen in Ländern wie dem Iran oder Russland, wo die freie Presse und andere zivilgesellschaftliche Instanzen kaum arbeiten können.

Auch Parastou Forouhar ist mit einer Arbeit vertreten. Sie stammt ursprünglich aus dem Iran, lebt aber seit zwanzig Jahren im Exil in Deutschland. Sie zeigt eine Sammlung offizieller Dokumente, die sie zusammenträgt, seit der iranische Geheimdienst ihre Eltern getötet hat. Anfragen an iranische Behörden, deren Antworten sowie Zeitungsausschnitte bergen keine letztgültige Wahrheit, eher sind sie Teil der bitteren Routine eines Verbrechens. »Aber sie bringen uns dem Warum der Morde näher«, sagt Inozemtseva.

Die Schau über Krieg, Gewalt und Repression findet nicht in einem Vakuum statt. Fragt man Inozemtseva, ob der russische Angriffskrieg abzusehen war, antwortet sie, das sei alles schon vor der Besetzung der Krim klar gewesen. Aber: »Wir hatten nicht den Mut, den Anzeichen entgegenzutreten.« Dieses Wir, so sagt sie, ist nicht nur das Garage Museum oder der Kunstbetrieb, sondern eine ganze Generation junger Menschen in Großstädten. »Wir hofften, dass Garage eine unter vielen globalen Kunstinstitutionen sein könnte, und stellten uns vor, wir wären Teil einer größeren Welt,« erklärt die Kuratorin. Eine Vorstellung, die am 24. Februar 2022 jäh endete.

›Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‹ Brücke-Museum und Schinkel Pavillon,
14 SEP 2023 bis 7 JAN 2024