Beim Essen gegessen

von 
Julia Stoschek Collection, Stephanie Comilang und Simon Speiser, ›Piña, Why is the Sky Blue?‹, Videostill, Courtesy by the artists

In unserer Reihe ›Die Arbeit‹ stellen wir, das Team der Berlin Art Week, Kunstwerke vor, die uns aufgefallen sind. Die Auswahl ist subjektiv, die Kriterien offen. Dieses Mal: Margarete Rosenbohm über Stephanie Comilangs und Simon Speisers ›Piña, Why is the Sky Blue?‹

Wenn wir über ›Virtual Reality‹ und ›Big Data‹ reden, assoziieren wir schnell dystopische Zukunftsvisionen und landen, wenn es ganz schlecht läuft, am Ende bei Sätzen wie »Ich schwöre, gestern habe ich über Milch geredet, und heute zeigt mir Instagram Werbung für Milch an«. Geraten diese Medien mit ihren Möglichkeiten jedoch in die Hände von Menschen, die der Welt und sich untereinander erstmal ein großes Vertrauen und Verständnis entgegenbringen, lassen sich aber auch völlig andere Szenarien vorstellen.

Diese Hoffnung zumindest geht von >Piña, Why is the Sky Blue?< aus. In dieser 28-minütigen Verschränkung aus Reportage und fiktiver Narration zeigen Stephanie Comilang und Simon Speiser in der Julia Stoschek Collection Interviews mit den Aktivistinnen Kankwana Canelos und Rupay Gualinga vom indigenen feministischen Kollektiv CiberAmazonas, mit der Heilerin Alba Pavón der Las Martinas de Piedras Negras in Ecuador sowie der Babaylan (etwa: Schamanin) Janet Dolera von den Philippinen.

»Technologie ist hier positiv konnotiert. Statt dystopischen Theorien stehen die Möglichkeiten und Vorteile im Mittelpunkt.«

Im Gedächtnis bleiben die Bilder der Mitglieder des erstgenannten Kollektivs, die sich mit Technologie als Kommunikations- und Vermittlungsmedium von Bräuchen und Traditionen verschiedener Stämme beschäftigen. Mit modernster VR-Technik ausgestattet, stapfen sie durch den südamerikanischen Dschungel. Technologie ist hier positiv konnotiert. Statt dystopischen Theorien stehen die Möglichkeiten und Vorteile im Mittelpunkt. Unterbrochen werden diese Bilder von Naturaufnahmen. Dazu ertönt eine scheinbar allwissende körperlose Stimme.

Diese Stimme gehört Piña, der Ananas, einer Frucht mit Symbolkraft. Kann sie sich doch auf verschiedene Weise fortpflanzen, ist weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuzuordnen und verdaut, wird sie verzehrt, selbst Teile der Mundschleimhaut. Niemand kann sie also essen, ohne auch von ihr gegessen zu werden. Auf den Philippinen ist die Ananas fremd, in Ecuador heimisch, dank der gewaltvollen spanischen Kolonialgeschichte wurde sie jedoch in beiden Ländern zu einem zentralen Produkt der Agrarwirtschaft. Ihre Fasern werden sogar zu Seide verwebt. Textilcollagen aus Ananasfasern bilden dann auch einen separaten Teil der Installation von Comilang und Speiser und hängen, den Weg zur Videoinstallation weisend, an der Wand.

»Das im Westen längst gefürchtete Internet der Kontrolle zeigt sich, lässt man Machtfantasien und Geldgier beiseite, als Ort des Vertrauens und des Wissensaustauschs.« 

Die CiberAmazonas, die Heilerin Alba Pavón und die Babaylan Janet Dolora stehen schließlich symbolisch für die Resilienz ein—und für eine Alternative zur westlichen, kapitalisierten Welt. Die Tools, derer sie sich bedienen, mögen ihren Ursprung zwar im Kapitalismus haben, werden von ihnen aber so stark umgenutzt, dass der Output nichts mehr mit der Wettbewerbsgesellschaft zu tun hat. Das im Westen längst gefürchtete Internet der Kontrolle zeigt sich, lässt man Machtfantasien und Geldgier beiseite, als Ort des Vertrauens und des Wissensaustauschs.

Um in eine andere Erfahrungswelt abzutauchen, kann man sich im Ausstellungsraum schließlich selbst eine VR-Brille aufsetzen. Man betritt Räume, die geisterhaft und zerfallen, geradezu zerfleddert wirken. Durch die Löcher in der Materialität zeigt sich die Leere des virtuellen Raumes. Und dann erscheint Piña. Jetzt werden >they< sichtbar—ein Mensch, der direkt in die Kamera, und damit in die Augen der besuchenden Person schaut. Piña kommt aus einer Zukunft, in der alles, was wir kennen, zerstört wurde und eine neue Utopie Wirklichkeit geworden ist. Langsam verschieben sich die Einstellungen: im Bett am Handy, beim Schminken vor dem Spiegel, später im Wasser an einer steinigen Küste oder im Dschungel. Die Bilder gleiten aus den Alltagssituationen heraus und hinein in träumerisch-surreal anmutende Szenen einer Natur, in der es nur noch Piña und das eigene Selbst gibt. Und längst hat man vergessen, dass man gerade in der Julia Stoschek Collection in einer Videoinstallation sitzt.

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