Wenn heute die Berlin Art Week 2020 beginnt, so ist alles anders als in den Jahren zuvor. Denkt man, hört man, liest man. Schließlich stellen die Kunstveranstaltungen der vielen Projektpartner der Berlin Art Week—zusammen mit dem Berliner Gallery Weekend, das dieses Jahr vom angestammten Termin im Mai aus bekannten Gründen in den Herbst verlegt wurde—neben der Manifesta in Marseille die erste Kunstgroßveranstaltung seit dem umfassenden Lockdown dar. Die Erwartungen sind also hoch. Denn niemand weiß so recht, wie das funktionieren wird, eine Kunstwoche mit entzerrten Eröffnungen, Abstandsregeln und Hygienevorschriften, ein Kunstevent ohne all das ›Socialising‹, die Gemeinsamkeit, das Treffen, den Austausch und die nötige Dichte. Dieses Jahr, so denkt man, hört man, liest man, ist alles fragil und prekär und vorläufig. Neu eben.
Aber ist wirklich alles so anders? So neu? Mitnichten. Natürlich, Dinge wie der Mundnasenschutz, 1,5 Meter Abstand zu den Mitmenschen und vorbuchbare Time-Slots für Ausstellungsbesuche waren zur gleichen Zeit letztes Jahr noch unvorstellbar. Aber alles andere? Viele der Fragen, die in den Ausstellungen und Veranstaltungen während der Berlin Art Week verhandelt werden, werden dies schon eine ganze Weile. Sie werden nun vielleicht nur anders gelesen. Dass es so nicht weitergehen kann, war ja schon länger klar: Schon lange wurde über Nachhaltigkeit diskutiert, über Chancen und Möglichkeiten einer zunehmenden Digitalisierung, wurde übers Runterschrauben gesprochen und über das Ende der Vielfliegerei. Schon eine Weile stehen Themen wie Verletzlichkeit, ›Care-Arbeit‹ und infrastrukturelles Denken auf der Agenda, ebenso wie die Diskussion struktureller Ungleichheiten und Fragen des Ausschlusses. Ob man es wahrgenommen hat—oder besser, ob man sich leisten konnte, es nicht wahrzunehmen—war bislang eine Frage von Perspektive und Privileg. Schon die alte Normalität war eine teuer erkaufte Illusion. Zu ihr zurückzukehren, ist keine Option. Eine neue zu postulieren aber auch nicht. Vielmehr geht es darum, die Offenheit der Situation jenseits aller Probleme und Schwierigkeiten bewusst zu nutzen.
Ein gutes Beispiel ist hier der massive Digitalisierungsschub und die Verlagerung vieler Aktivitäten in den Online-Bereich während des Lockdowns. Auch der Kunstbetrieb schaltete im Frühjahr schnell auf digitale Formate um, von den sogenannten Online Viewing Rooms bis zu Konferenzen und Performance-Veranstaltungen via Zoom. Die Berlin Art Week hat ebenfalls reagiert und mit dem Journal, in dem dieser Text erscheint, und der sogenannten Playlist einen digitalen Raum geschaffen, in dem die Protagonist*innen der Berlin Art Week zu Wort kommen, Themen verhandelt werden können und vor allem auch Veranstaltungen übertragen oder Videos und Podcasts online gehostet werden können. Neben Live-Veranstaltungen und vorproduzierten Inhalten werden hier beispielsweise auch die Radio-Streams des Projektraums Cashmere Radio und von SavvyZaar, dem neuen Radiosender von Savvy Contemporary, zu finden sein.
Das heißt aber nicht, dass die Kunst den realen Raum der Institutionen im Besonderen wie auch der Stadt im Allgemeinen hinter sich lässt. Im Gegenteil. Wie diese Räume neu bestimmt werden können, ist integraler Bestandteil der Diskussion. Die Posteraktion von Hans Haacke ›Wir (alle) sind das Volk‹ ist als verbindendes Element an zahlreichen Partnerinstutionen der Berlin Art Week zu sehen. Und das gerade erwähnte Projekt Cashmere Radio beispielsweise definiert sich als öffentlich zugänglicher Raum und als digitaler Stream, in den man sich von überall her einklinken kann, gleichermaßen. Und wie Nadim Julien Samman, seit diesem Jahr Kurator für den digitalen Raum bei den KW–Institute for Contemporary Art und während der Berlin Art Week verantwortlich für das Talk- und Veranstaltungsprogramm ›EC(centri)City—Die exzentrische Stadt‹ in der Akademie der Künste, in einem der ersten Interviews, die wir hier im Journal posteten, zum Gegensatz von Online- vs. Offline-Ausstellungen sagte: »Das ist keine Frage von entweder/oder. Wie denn auch? Die Entwicklung geht in Richtung Konvergenz—man sollte in Schichtungen denken.«
Diese Rede von den Schichtungen trifft es ganz gut. Und sie ließe sich ebenso auf das Verhältnis von Lokal und Global anwenden. Darauf weist in einem anderen Interview für das Journal beispielsweise Ariane Beyn hin, die im Times Art Center Berlin die Ausstellung ›Readings From Below‹ kuratiert hat. Sie spricht davon, dass Institutionen gleichwohl lokal engagiert wie digital international vernetzt agieren müssten. Sicher, im Grunde trifft auch das schon seit einigen Jahren zu. Neu aber ist eben die Notwendigkeit von Mehrgleisigkeit und Überlagerung—und die Selbstverständlichkeit der Verzahnung. Vielleicht lässt sich das Verhältnis von Lokal und Global ja anders denken: statt dichter Vernetzung eher als loser Archipel unterschiedlicher, miteinander im Austausch stehender Elemente, die aber dennoch autark und nach den jeweiligen Eigenheiten funktionieren; Einheiten, die auf spezifische Tiefe und lokale Dichte ausgerichtet sind, aber dennoch aufeinander verwiesen sind—und zwischen denen es auch mal Lücken geben darf.
Was für den Raum gilt, lässt sich auch von der Zeit behaupten. Schließlich definiert sich die Berlin Art Week schon im Namen nicht nur über einen Ort—wie dezentral sie innerhalb der Stadt schon immer ausgerichtet war—, sondern auch über eine Zeitspanne. Bislang gehorchten die fünf Tage dieser Woche einer gewissen Dramaturgie mit gestaffelten Eröffnungen und Veranstaltungen. Das ist dieses Jahr anders. Eröffnungen erstrecken sich über den ganzen Tag, die Unterscheidungen zwischen diversen Sparten und Kategorien sind weitestgehend aufgelöst. Die 11. Berlin Biennale, auch einer der Programmpartner der Berlin Art Week, hat bereits letzte Woche eröffnet.
Es wirkt wie ein seltsamer Zufall, dass nun ausgerechnet diese ursprünglich schon für Juni geplante und auf den Herbst verschobene Ausstellung eine Art Prolog für die Berlin Art Week abgibt. War sie doch selbst als ›Epilog‹ eines Programms gedacht, dem es schon lange vor der Pandemie darum ging, den Eventcharakter von Blockbuster-Veranstaltungen zu unterlaufen und mit langfristigen Projekten und diversen Vorstufen, genannt ›Experiences‹, zu entzerren. Die vier Kurator*innen wollten so mehr Platz zu schaffen für nachhaltige Arbeit, für Gespräche, für tatsächliche Begegnungen, für komplexe Situationen—für etwas, das inhaltlich, räumlich und zeitlich bewusst ausfranst. Denn substanzielle Arbeit braucht Zeit. Doch je tiefer man sich in die (Infra-)Strukturen hineinbegibt, desto unsichtbarer wird es manchmal auch für ein außenstehendes Publikum, desto schwerer zu vermitteln. Desto mehr widersetzt es sich aber auch einer Verwertung im extraktiven Sinn. Wie im Fall der Berlin Biennale liegen viele der Fäden, die diese Gegenwart durchziehen, längst offen dar. Es geht nun darum, welche man aktiv aufnimmt. Und wie man sie verwebt.