Jenseits des Tabus

von 
Charmaine Poh, The Moon is wet, 2025 (Videostill)
Charmaine Poh

Charmaine Poh rebelliert gegen die Regeln ihrer Heimat Singapur—in diesem Jahr ist sie Artist of the Year der Deutschen Bank.

Dieser Artikel erschien zuerst in dem Berlin Art Week 2025 Sonderheft des Monopol Magazins.

Die Künstlerin Charmaine Poh sitzt in einem Besprechungszimmer des Palais Populaire in Berlin und kommt einem gleich bekannt vor: Sie sieht aus wie der Deepfake-Avatar aus ihrem Video Good Morning Young Body. 2021, während der Pandemie, hatte die Künstlerin aus Singapur unerwartete Nachrichten erhalten: Die TVSerie über ein Detektiv-Trio, in der sie vor knapp 20 Jahren als Kind mitgespielt hatte (sie war die Nerdige), wurde online gestellt und war für jedermann verfügbar. Alles, was sie damals als Kinderschauspielerin erfahren hatte, die bösartigen Kommentare, die Objektifizierung und Sexualisierung—etwas, worauf sie die Erwachsenen nicht vorbereitet hatten—, drohte sich zu wiederholen. Damals, als Jugendliche, war sie allein damit. Mit ihrem Kunstwerk Good Morning Young Body formulierte sie ihre Entgegnung. »Was wäre, wenn ich eine Superhelden-Version meines 12-jährigen Ichs erschaffe, was würde sie heute sagen?« So ließ sie ihr digitales Alter Ego eine feministische Polemik vortragen, klug und eindringlich.

Charmaine Poh, geboren 1990 in Singapur, hatte in den USA eigentlich Internationale Beziehungen studiert, doch durch einen einjährigen Kurs bei dem britischen
Kriegsfotografen Gary Knight änderte sie ihre Richtung. »Da begann ich, darüber nachzudenken, welche Geschichten ich erzählen möchte. In der Fotografie fand ich eine Art Notwendigkeit, der Welt zu begegnen. Sie erfordert deine Präsenz.« Besonders beschäftigten sie ethische Fragen der Dokumentarfotografie, wie etwa der verbreitete koloniale Blick im Fotojournalismus. »Meine Frage war: Versuche ich, mich in die Branche einzufügen? Oder schlage ich meinen eigenen Weg ein? Ich entschied mich für Letzteres.«

»Meine Frage war: Versuche ich, mich in die Branche einzufügen? Oder schlage ich meinen eigenen Weg ein? Ich entschied mich für Letzteres.«—Charmaine Poh

Ihr Werk What’s softest in the world rushes and runs over what’s hardest in the world lief auf der Venedig-Biennale von 2024. Es sind O-Ton-Interviews mit gleichgeschlechtlichen Paaren aus Singapur, die gemeinsam ein Kind haben—etwas, das in Singapur ebenso wie gleichgeschlechtliche Ehen nicht vorgesehen ist. Die Frauen oder Transpersonen berichten mal ruhig, mal aufgewühlt von ihren überwältigenden Gefühlen, von Zurückweisung, Glück und Scham. Auf der Bildebene erschafft Charmaine Poh parallel eine poetische Leichtigkeit und Vertrautheit, ohne je Personen zu zeigen. Vorhänge wehen, ein Schattenspiel ist an die Wand geworfen, Zweige wiegen im Sommerlicht. Niemand wird zu Bekenntnissen gezwungen, die er oder sie später bereuen könnte, niemand muss seinen Körper zeigen. Die ethische Balance wird gehalten, und doch sitzt die Botschaft präzise.

»Queere Elternschaft steht für mich für so viele Dinge: Was ist Leben, was ist Natur, was ist Legalität? Es war der richtige Moment.« Als erste Künstlerin aus Singapur, die zur Hauptausstellung in Venedig eingeladen wurde, konnte sie sich der Aufmerksamkeit seitens der Politik sicher sein. Dennoch fiel über ihr Werk von offizieller Seite erst ein Wort, als die Eröffnungswochen und damit das geballte Interesse verstrichen waren. In Singapur wurde dem Film die höchste Altersbeschränkung, 21, auferlegt.

Charmaine Poh
Muhammad Fadli

Jurymitglied Stephanie Rosenthal empfahl Charmaine Poh als Artist of the Year der Deutschen Bank. Nun ist sie die jüngste Preisträgerin des renommierten Awards und wird in Berlin ein neues Dreikanal-Video zeigen. The Moon is Wet erzählt anhand von drei Frauenfiguren—mythologisch, historisch und aus der heutigen Welt—von Migration zum Zweck des Dienens. Das Leben mit weiblichen Hausangestellten, Arbeitsmigrantinnen, ist in Singapur seit dem 19. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. Poh erzählt von der Meeresgottheit Mazu, die keinen Mann heiraten wollte, den sie besiegen könnte, und folglich unverheiratet blieb. Sie verwebt die Erzählung mit den Lebensgeschichten von Majie-Frauen und zeitgenössischen Hausangestellten in Singapur, die weder schwanger werden dürfen noch irgendeinen rechtlichen Schutz haben—in einem Land, das sich aus einem einzigen Fortschrittsversprechen heraus erschaffen hat. Charmaine Poh zeigt Zusammenhänge zwischen Mythologie, Geschichte und Gegenwart und deutet einen
queeren Subtext an, der über weibliche Solidarität hinausgeht. Ihr Interesse für ihre Figuren ist immer aufrichtig, The Moon is Wet führt durch die sich wandelnden
Landschaften Singapurs—von Mangrovensümpfen zu modernen Großstädten, vom Ozean zu Rechenzentren. Wer profitiert von der Technologie, auf wessen Schultern wird Fortschritt möglich?

Singapur reguliert stark über Sprache und ethnische Zugehörigkeiten—Mandarin und Englisch wurden gefördert, andere Sprachen zurückgedrängt. Aufgrund ihrer Zensurerfahrungen hat Charmaine Poh für ihren neuen Film The Moon is Wet drei Sprachen verwendet, die von der Zensur nicht erfasst werden—eine indonesische, Hokkien, das in Taiwan gesprochen wird, und Kantonesisch. Im Palais Populaire wird es deutsche Untertitel geben. Poh selbst hat sich den Regeln ihres Geburtslandes entzogen: Sie lebt jetzt in Berlin.

›Charmaine Poh: Make a travel deep of your inside, and don’t forget me to take‹, PalaisPopulaire, 11 SEP 2025—23 FEB 2026

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