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Die in Berlin lebende Künstlerin Lin May Saeed beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Leben von Tieren und den Beziehungen zwischen Tier und Mensch. Mit einer konsequenten künstlerischen Sprache, viel Einfühlungsvermögen, einem breiten kulturhistorischen Wissen zu Märchen und Fabeln, aber auch mit Humor erzählt sie alte und neue Geschichten von der Unterwerfung und Befreiung der Tiere und ihrem Zusammenleben mit den Menschen. Die deutsch-irakische Künstlerin erschafft mit ihren Skulpturen, Reliefs, Metallarbeiten, raumgreifenden Scherenschnitten und Zeichnungen eine neue Ikonographie der Solidarität und Koexistenz zwischen den Arten. Für ihre erste Museumseinzelausstellung in Deutschland tritt Lin May Saeed im Georg Kolbe Museum in einen künstlerischen Dialog mit Arbeiten von Renée Sintenis (1888—1965). Diese zentrale Bildhauerin der Berliner Moderne suchte ihrerzeit ebenfalls nach einer Sprache und Abbildbarkeit des Wesens und der Ausstrahlung tierischer Geschöpfe und feierte ihren Durchbruch in den 1920er Jahren mit kleinformatigen Tierskulpturen, von denen Saeed für die Ausstellung eine Auswahl traf.
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Die Form des Reliefs spielt bei Lin May Saeeds Arbeiten eine wichtige Rolle. Diese Zwischenform aus Skulptur und Malerei, Fläche und Raum zieht sich durch ihr gesamtes Werk. Das Relief ›Mureen / Lion School‹ ist in vier Ebenen unterteilt: Die oberste zeigt eine Löwin, die mit der Löwin auf der darunterliegenden Ebene mit dem poetischen Satz »Im Paradies fallen die Schneeflocken langsam« auf Arabisch ins Gespräch kommt und Inspiration für den Titel der Ausstellung war. Die Künstlerin verwendet immer wieder arabische Schrift in ihren Werken als Verweis auf die Familie ihres Vaters, der aus dem Irak stammte. In ihrer Aufteilung erinnert die Arbeit an antike Formen und Darstellungen, wie etwa die der Uruk Vase, die zu den frühsten Reliefkunstwerken des alten Mesopotamiens gehört und aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammt. Die sumerischen Städte Ur, Uruk und Eridu lagen am Rande der Hamar Marschen—Wiege der menschlichen Zivilisation und Inspiration für die Erzählungen um den paradiesischen Garten Eden. Gemeinsam mit dem Vorderasiatischen Museum, in dessen Sammlung die Uruk-Vase ist, veranstaltet das Georg Kolbe Museum Führungen hierzu—gerade noch rechtzeitig bevor das Pergamon-Museum für die kommenden Jahre wegen Umbau schließt.
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Lin May Saeed arbeitete Ende 2019 an ihrer Pangolin-Skulptur, die 2020 in einer Ausstellung in den USA gezeigt werden sollte. Das Schuppentier ist eines der am meisten gejagten und dementsprechend gefährdeten Wildtiere und fand im Zuge der Covid19-Pandemie zu trauriger Berühmtheit. Die Skulptur ist aus Styropor gefertigt, einem auf Erdöl basierenden, biologisch nicht abbaubaren Kunststoff und der von Lin May Saeed bevorzugte Werkstoff für ihre Arbeiten. In ferner Zukunft werden nicht Bronze oder Marmor als bildhauerisches Material Zeugnis menschlichen Schaffens ablegen, da sie verfallen sein werden. Styropor hingegen bleibt intakt und steht für die Künstlerin als Mahnung der Auswirkungen des Menschen auf die Umwelt, dient jedoch zugleich als emanzipatorisches Material, welches auch ohne starke physische Kraft leicht zu bearbeiten ist. Die schlanken Kisten, in denen ihre Skulpturen zum Transport und zur Lagerung aufgehängt werden, erinnern an Käfige, die dann zu Sockeln für die Ausstellung umfunktioniert werden.
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In ihrem Werk thematisiert Lin May Saeed durchgehend den weitreichenden Konflikt im ungleichen Machtverhältnis Mensch-Tier. Dieser wird jedoch von ihr durch Empathie und empathische Handlungen in Hoffnung überführt. Und so schafft Lin May Saeed einen fast utopischen zukünftigen Raum des Miteinanders zwischen den Spezies in unserer zunehmend instabilen Realität im Anthropozän. Das Bienen Relief ist Teil ihrer Langzeitserie zur Befreiung der Tiere—hier ist ein Mensch dargestellt, welcher nach der Befreiung in einer Art Gebet auf die Knie geht. Das Wohl der Bienen ist ein bedeutender Gradmesser in Umweltfragen. Bienen reagieren auf minimale Veränderungen in ihrer Umwelt und das weltweite Bienensterben, welches vor einigen Jahrzehnten einsetzte, ist somit eine zentrale Warnung.
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Die siebenköpfige Figurengruppe ›Seven Sleepers‹ entstand ursprünglich als ortsspezifische Arbeit für Lin May Saeeds Ausstellung im Clark Art Institute in den USA. Die sieben Figuren haben menschliche, aber auch nicht-menschliche Züge. In der zweiten Figur von links lässt sich ein Hund erkennen, dessen Haltung von Renée Sintenis‘ ausgestelltem ›Trümmerhund‹ aus dem Jahr 1946, gespiegelt wird. Die Szene verweist auf die Geschichte der Sieben Schläfer von Ephesus, die sowohl christlichen als auch islamischen Ursprungs ist und von sieben Männern erzählt, die für Jahrhunderte in einer Höhle schliefen, um religiöser Verfolgung zu entkommen. Weist die Geschichte an sich schon interkulturelle sowie transreligiöse Inhalte auf, erweitert die Künstlerin diese um eine interspezifische Perspektive, indem sie den Hund nicht separat darstellt wie es die Version der Geschichte im Koran nahelegt, sondern ihn als Teil der Sieben zeigt.
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Das Relief zeigt Tiere des Kambriums, einer Epoche der Erdgeschichte, die 500 Millionen Jahre zurückliegt und auch kambrische Explosion genannt wird, weil sich in einer kurzen Phase ein enormer evolutionärer Schub ereignete, währenddessen die meisten der heute bekannten Tierstämme entstanden. Milde Temperaturen und ein hoher Sauerstoffgehalt im Wasser waren optimale Lebensbedingungen. Leben entstand um Tiefseeschlote herum, die auch ›Black Smoker‹ genannt werden und vulkanische Erscheinungen im Meer sind, die sich zu schlanken Säulen auftürmen können und heißes Wasser ausstoßen, was am rechten Bildrand dargestellt ist. Weiterhin zu sehen sind die Ur-Tiere Anomalocaris, Opabinia, Wiwaxia oder die Stacheltiere von Lin May Saeed aus Metall gefertigt—die Halucigenia. Die Schrifttafeln verweisen auf Lernmittel und Schautafeln in Schulen oder naturkundlichen Museen. Sie sind jedoch anstatt auf Deutsch oder Latein auf Arabisch verfasst, wodurch die Künstlerin sich selbst als Lernende positioniert, die Arabisch als Erwachsene erlernte.
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In den letzten 100 Jahren hat sich das gesellschaftliche Bild des Tieres stark gewandelt. Die in den 1970er Jahren aufkommende Tierbefreiungsbewegung, von der Lin May Saeeds Ansatz beeinflusst ist, massenhaftes Artensterben oder die Rolle industrieller Massentierhaltung im Fortschreiten des Klimawandels verdeutlichen die neue Aktualität und Dringlichkeit in unserer Wahrnehmung und in unserem Umgang mit anderen Lebewesen. Hier hat Lin May Saeed eine fiktionale Rechnung geschrieben, die ihr angeblich von Nestlé für ihren Wasserverbrauch im Jahr 2029 gestellt wurde. Darin wird ihr Verbrauch von fiktiven Nestléprodukten im Monat März in Rechnung gestellt; damit persifliert sie tatsächlichen Produkte des globalen Lebensmittelkonzerns, wie das Trinkwasser in Flaschen, das unter dem Handelsnamen ›Pure Life‹ vertrieben wird. Nestlé sieht sich schon lange wegen seiner aggressiven und schädlichen Wassergewinnung und den Auswirkungen auf die Communities und die Umwelt, wo dies stattfindet, massiver Kritik ausgesetzt. Der Dokumentarfilm ›Bottled Life‹ (2012) hat auf dieses höchst profitable Geschäftsmodell aufmerksam gemacht.
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Die Stahltür ›Liberation of Animals from their Cages XXI / Lobster‹ entstand 2018 und ist ebenso Teil von Lin May Seeds noch nicht abgeschlossener Befreiungsserie. Im Gegensatz zu anderen Szenen aus dieser Serie, wo Tiere von menschlichen Verbündeten befreit werden, hat der Hummer das Werkzeug, um sich selbst zu befreien, indem er das Metallgitter mit seinen Scheren aufschneidet. Der Hummer ähnelt Anomalocaris, dem Raubtier aus ›Cambrian Relief‹, obgleich die Ikonographie des Hummers heute von der Tatsache definiert ist, dass er als eine Delikatesse des bourgeoisen Lebensstils gilt. Die Arbeit ist auch eine Art fließender Übergang von der vorherigen Ausstellung im Museum über die Schauspielerin und Berliner Legende Tilla Durieux, die in dem Ein-Personen-Stück ›Langusten‹ eine ikonische Rolle spielte.
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Die älteste Arbeit in der Ausstellung stellt den antiken griechischen Philosophen Zenon von Elea dar, bekannt vor allem für seine Schriften über Paradoxien. Das berühmteste von ihnen, das Paradoxon der Bewegung, argumentiert, dass keine Bewegung möglich sei. Zeno legt dar, dass ein sich bewegendes Objekt nie sein Ziel in einer endlichen Zeit erreichen könne, da es eine unendliche Anzahl von Punkten auf dem Weg gäbe. Obgleich dies eine theoretisch stichhaltige Aussage ist, gilt sie heute als widerlegt. In dieser Arbeit wird Zenon selbst als eine Art Paradoxon dargestellt. Zenon liegt in einem muschelartigen Ruderboot, mit einem Bikini bekleidet, mit einer Katze auf dem Knie. Obwohl er männlich erscheint, bringen der Bikini und die Art, wie die Figur wie ein klassisches weibliches Modell posiert, binäre Genderzuschreibungen durcheinander. Lin May Saeed beschreibt Zenon als »eher einen Unruhestifter als einen Philosophen«, und er ist ein Sujet, das sie oft dargestellt hat. In ihren Augen wäre Zenon ein idealer Schutzpatron für figurative Skulptur, da auch Skulpturen unendlich lang stillstehen müssen.
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Die Hammar-Marschen, Haur-al Hammar, (هور الحمّار) auf Arabisch, im südlichen Irak, sind eines der wichtigsten Feuchtgebietssysteme der Welt und gelten als die Wiege Mesopotamiens und mithin der menschlichen Zivilisation wie auch als die Inspiration für die biblische Erzählung über den Garten Eden. Trotz ihrer idyllischen Erscheinung in diesem Scherenschnitt sind die Marschen schon lange ein Ort des Konflikts. Sie wurden in den 1990er Jahren von der irakischen Regierung, die die oppositionellen Rebellen vertreiben wollten, trockengelegt. Seit den 2000er Jahren werden Versuche unternommen, dieses einmalige Ökosystem wiederzubeleben, das seit 2016 zum UNESCO-Welterbe zählt. In diesem Scherenschnittwerden die Feuchtgebiete als ein Ort gezeigt, der fast mit Wasser überschwemmt ist und wohin das Vieh, die Vögel und Fische zurückgekehrt sind. Die traditionelle Architektur, von den Bewohner*innen mit örtlichem Stroh errichtet, steht stark in der Landschaft, was die Gegend als einen Ort des Zusammenlebens und der Kooperation von menschlichen und nicht-menschlichen Tieren unterstreicht. Lin Mye Saeed wurde sehr von der bahnbrechenden Animationsfilmemacherin Lotte Reiniger (1899—1981) beeinflusst, die Scherenschnitte als ihre zentrale ästhetische Sprache verwendete.
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Renée Sintenis (1888; Glatz-1965, West-Berlin) war eine der bekanntesten und erfolgreichsten Berliner Bildhauerinnen der Weimarer Republik. 1915 stellte sie zum ersten Mal in der Berliner Secession aus und in den 1920er-Jahren war sie in Kunst und Gesellschaft Berlins quasi omnipräsent. Sintenis zählte zu den schillerndsten Figuren der Berliner Kunstszene jener Jahre. 1931 wurde sie als eine der ersten Frauen an die Preußische Akademie der Künste berufen, 1934 erfolgte der von den Nationalsozialisten erzwungene Austritt und nach dem Krieg wurde sie 1947 als eine der ersten Professorinnen an die Hochschule der Künste berufen. Sintenis war als Tierbildhauerin bekannt, nach ihrem Entwurf entstand u.a. der Berlinale Bär, der immer noch alljährlich zur Berlinale verliehen wird. Das Georg Kolbe Museum beherbergt einen Teilnachlass und wichtige Werke der Künstlerin, sowie Teile ihres Fotoarchivs. Das ›Knieende Reh‹ aus der Sammlung des Georg Kolbe Museums wurde von Lin May Saeed für die Ausstellung ausgesucht.