»Meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen.«

von 
© Ligia Lewis & Moritz Freudenberg

Während der Berlin Art Week präsentiert Ligia Lewis ihre neue Arbeit ›Still not Still‹ im HAU Hebbel am Ufer. Wir haben mit Lewis über Differenz, die Produktion von Bildern auf der Bühne und eine ›Ästhetik des Flüchtigen‹ gesprochen.

Ligia Lewis’ Bühnenwerk zeichnet sich durch eine tiefe visuelle Qualität aus. Schichten von Bewegung, die sich mit ästhetischen Idiomen und Imaginationen überlagern, erscheinen vor rätselhaften Landschaften und erschaffen neue Möglichkeitsräume. In ihrer Trilogie ›Sorrow Swag‹, ›Minor Matter‹ und ›Water Will (in Melody)‹ setzte sich die Choreografin und Tänzerin aus einer Schwarzen Perspektive mit der Ästhetik des romantischen, modernen und viktorianischen Theaters auseinander. Die darauffolgenden Arbeiten ›deader than dead‹ aus dem Jahr 2020 und ›Still not Still‹ von 2021 lassen sozusagen ›die Welt aus der Rolle fallen‹, indem sie das Konzept des ›corpsing‹, wie David Marriott es in seinem Essay ›Corpsing; or the Matter of Black Life‹ beschrieben hat, künstlerisch adaptieren. Lewis mischt Bilder aus dem späten Mittelalter und Tonmaterial mit performativen Ästhetiken und amerikanischen Western und schafft so eine Fantasie der Vergeblichkeit, in der nicht nur der Tod am Ende gewinnt, sondern auch der Wunsch die Oberhand gewinnt, etwas schon lange obsolet Gewordenes zum Verschwinden zu bringen, indem man es sich so präzise wie möglich erschöpfen lässt.

© Ligia Lewis & Moritz Freudenberg

© Ligia Lewis & Moritz Freudenberg

Es gibt einen recht bekannten Text von Denise Ferreira de Silva mit dem Titel ›On Difference Without Separability‹, der 2016 für den Katalog der 32. Bienal de São Paulo entstanden ist. In diesem Text plädiert sie für eine Welt, in der weder unsere »juristischen Identitäten« noch unsere Unterschiede durch Territorien und Grenzen definiert werden. Wenn Sie mit einem diversen Ensemble arbeiten—welche Vorstellungen von Differenz leiten Sie dabei an?

Alle meine Stücke bauen auf Unterschiede unter Unterschieden unter Unterschieden auf. Selbst wenn ich mit einem gänzlich Schwarzen Ensemble arbeite! Das ist das Missverständnis in Europa, dass Unterschiede zwischen Schwarzen Menschen und innerhalb der Schwarzen Community nicht erkannt werden. Ich arbeite durch eine Art Schwarzer Linse, die eine Welt kritisiert, die nach dem Bild weißer Menschen modelliert ist. Ich versuche immer, bestimmte vorgefasste Ideen über ›race‹ zu hinterfragen, denn ich bin der Überzeugung, dass wir alle noch viel tiefer gehen müssen. Und die tiefergehende Frage ist: Was ist menschlich? Was wurde als menschlich definiert und was nicht? Repräsentation—der bloße Akt, etwas auf der Bühne auszusagen—rettet uns nicht, denn die Welt, wie wir sie kennen, ist entlang ethnischer Hierarchien aufgebaut. Mein Stück ›Still not Still‹ versucht, dies bis zu einem gewissen Grad zu dekonstruieren. Gleichzeitig gibt es sich einem ständigen Fallen in einen dunklen Abgrund hin, einer Poetik des Unsinns und einer Poetik der Dunkelheit. Ich bin keine Sozialwissenschaftlerin, ich bin Künstlerin, und im Moment interessiere ich mich dafür, Bilder zu erschaffen, die einen Nachhall haben. Ich denke, wir müssen eine ganz andere Welt bauen, denn diese Welt ist …

 

Sind Ihre ästhetischen Vorstöße ins Unbekannte dann ein Weg zu einer anderen Welt?

Ich denke, sie stellen eine Suche nach anderen Möglichkeiten dar. In die Dunkelheit zu gehen, in eine tiefe Poetik, ist vielleicht eine Form des Fantasierens, wie man einen Weg aus diesem System, aus dieser Logik heraus finden kann, in der immer auch ein Machtgebahren am Werk ist. Ich beobachte, wie die Gewalt mit dem Menschlichen verknüpft ist. In ›Still not Still‹ wandert der Machtgestus von Körper zu Körper. Macht ist untrennbar mit dem Menschsein verbunden. Und wenn sie sich äußert oder geäußert wird, geht sie mit einer bestimmten Form der Beherrschung und einer Menge Tücken einher. Diesen Zustand stellen die Performer*innen aus, und weil man, schon bevor sie es tun, weiß, wie brutal das werden wird, wird es auf eine gewisse Weise noch grausamer. Also ja, vielleicht spiele ich mit Grausamkeit im selben Maße wie ich versuche, sie zu überwinden.

 

Wie erschaffen Sie Bilder und Bewegungen? Ihre Referenzen beziehen sich auf die Kunstgeschichte, auf die Musik—mit einer Vorliebe für das Sampling alter klassischer Musik, auf darstellende Künste—sowohl aus dem Theater- wie auch aus dem Filmbereich, insbesondere dem Stummfilm. Sozialgeschichte scheint dagegen eher im konzeptuellen Rahmen Ihrer Stücke verortet, als dass sie buchstäblich aufgeführt würde. Nehmen Sie Versatzstücke von bekannten oder weniger bekannten kunsthistorischen Werken und verrücken ihre Kontexte, um so Bewegungen zu erschaffen, oder läuft es anders herum: dass die Bewegungen Sie zu den Bezügen führen?

Ich denke, es ist eine Kombination von beidem. Ich fange damit an, viel über das Konzept nachzudenken. Dabei kann ich oft in Bildern träumen. Im Fall von ›Still not Still‹ war ich wie besessen von wiederholtem Hinfallen und der Idee von bewegten Bildern. Von der Dynamik, aber auch der Poetik davon—also: Was, wenn wir uns, wie mein Freund Mlondi Zondi es ausdrückt, alle mit der Tatsache abfänden, dass wir in dieser schrecklichen Dystopie gefangen sind und eben nicht versuchen, dabei irgendetwas zu retten, eben nicht versuchen, irgendetwas zurückzugewinnen? Warum nicht an den Fallstricken der Geschichte reißen, bis sie sich erledigt hat? Diese Frage ließ mich mit einer Form wiederkehrenden Sterbens arbeiten, wodurch ich dramaturgisch bei der Struktur der Wiederholung angelangte. Das Stück basiert letztendlich also auf einem Loop: Man sieht die Dinge in der Wiederholung in einer verstärkten, einer plastischeren Form, entweder lustiger oder dunkler … Was dagegen meine physischen Einflüsse angeht: Ich habe mir Malerei angesehen, aber daneben auch diesen wirklich interessanten Film von Carmelo Bene mit dem Titel ›Capricci‹. Ich liebe Benes ästhetische Sensibilität! Das bildete die Grundlage für einige Szenen. Und auf dieser Grundlage schuf ich eine Situation oder Meditation nach dem Motto ›Ich sehe dich, wie du siehst, wie ich sterbe oder leide‹. Die Performer*innen entwickelten natürlich ebenfalls eine Menge Material. Auf diese Weise nahm unsere Bühnenwelt allmählich Form an. Es gibt Ähnlichkeiten mit ›Water Will in Melody‹ von 2019: die Slapstick-Komik, das Plastische der Performativität sowie Ideen hinsichtlich der Rahmung des Raums. ›Still not Still‹ fühlt sich an wie ein mittelalterliches Dorf, aber auch wie ein verhunzter amerikanischer Western. Meine Arbeit ist immer eine Mischung aus Einflüssen und Sensibilitäten.

 

Die Themen von ›Still not Still‹ sind in der Videoarbeit ›deader than dead‹ kondensiert, die Sie für die Biennale Made in L.A. gemacht haben. Warum haben Sie entschieden, die Theaterversion und nicht die White-Cube-Version zur Berlin Art Week zu bringen?

Ich glaube, es war das HAU Hebbel am Ufer, das an der Bühnenversion interessiert war. Ich bin mit beiden glücklich. Die Theaterversion ist natürlich viel länger und verlangt nach einer ganz anderen Aufmerksamkeit. Das Publikum ist der Zeitlichkeit stärker ausgesetzt. Ich mag die Herausforderung dieser Erfahrung.

© Ligia Lewis & Moritz Freudenberg

Das Theater als Erfahrungsraum basiert auch auf einer spezifischen repräsentativen Machtkonstruktion—für jemanden wie Tino Sehgal ist das beispielsweise einer Gründe, den Tanz aus dem Theater herauszunehmen und ins Museum zu bringen.

Nun, ich mag das Theater und nutze das Theater als das, was es ist: Es ist ein Ort für das Sehen—der Etymologie für ›Theatron‹ zufolge, wie ich sie in Bojana Cvejićs Buch ›Choreographing Problems‹ gefunden habe. Für einen markierten Körper ist es ein interessanter Ort für kreatives Arbeiten. Man denkt über die Konventionen des Sehens nach, während man mit dem und durch das spezifische Sensorium geleitet wird. Sicher, es besteht diese Fokussierung auf das Sehen oder ein bestimmtes Regime des Sehens im Theater, aber viele Bühnen-Künstler*innen hinterfragen das eben auch.

 

Sie arbeiten gerne mit der Tiefe des Theaterraums. Damit meine ich, dass Sie mithilfe von Requisiten und Beleuchtungen geschichtete Bilder schaffen, Atmosphären, die pastosen Ölbildern oder impressionistischen oder auch einem heruntergerockten Realismus ähneln. Gleichzeitig eröffnet Ihnen der perspektivische Raum aber auch Möglichkeiten, um darin eine »Ästhetik des Flüchtigen« zu verorten—Situationen, in denen man dem Sehen und der Fixierung im Bild entfliehen kann.

Ich mag den Theaterapparat, die Art von Imagination und Fantasie, die er erlaubt. Es ist aber auch eine große Herausforderung, diesem Raum die eigenen Vision einzuzeichnen. Ich versuche, Schicht für Schicht aufzubauen, um der Gefangenschaft des Wissens zu entkommen—in etwa: Hier geht es um dies … um eine transparente Politik oder um weiße Identität oder … Versuche der Reduktion eben. Etwas zu produzieren, das über Bedeutung oder den Sinn hinausgeht, das ist es, was mich wirklich interessiert. Ich meine es ernst, wenn ich sage, ich interessiere mich dafür, was aus Unsinn entsteht—und zwar nicht im Sinn einer Flucht, sondern als einer weiteren Möglichkeit außerhalb der Vernunft. Das Theater erlaubt es mir zu träumen, aber meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen.

HAU HEBBEL AM UFER
Ligia Lewis. Still Not Still
16—18 SEP 2021, 20.30—22 Uhr

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