»Es geht um eine Brust-Darm-Hirn-Verbindung«, sagt Jenna Sutela beim Atelierbesuch in Berlin-Kreuzberg. Die finnische Künstlerin spricht über ihren jüngsten Werkkomplex, von dem ein Teil kürzlich erstmals in einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst gezeigt wurde und der nun im September in der Berliner Schering Stiftung zu sehen sein wird. Im Video ›Milky Ways‹ (2022), einer immersiven Installation mit dem Titel ›HMO nutrix‹ (2022) und einer Serie von Wandreliefs mit dem Titel ›Gut Flora‹ (2022) setzt sich Sutela mit verschiedenen Aspekten und der Wirkung von Humanen Milch-Oligosacchariden (HMOs) auseinander—womit sich ihr grenzüberschreitender Ansatz ebenso zeigt, wie die Arbeiten selbst den aktuellen Stand der Forschung in verwandten wissenschaftlichen Bereichen reflektieren.
»Für die Performance ›Many-Headed Reading‹ (2016) schluckte Sutela eine Dosis eines einzelligen Schleimpilzes namens Physarum polycephalum, der trotz seiner buchstäblichen Gehirnlosigkeit dank der Interaktion seiner zahlreichen Kerne komplexe Entscheidungen treffen und räumliche Probleme lösen kann.«
Sutela ist dafür bekannt, mit biologischen und computergestützten Systemen zu arbeiten, mit Mikroorganismen ebenso wie mit künstlicher Intelligenz; und dafür, diese auf eine experimentelle und esoterische Weise einzusetzen und die Grenzen der üblichen Labor- und Technologiekontexte zu überschreiten. Für ihre Performance ›Many-Headed Reading‹ (2016) schluckte die Künstlerin etwa eine Dosis eines einzelligen Schleimpilzes namens Physarum polycephalum, der trotz seiner buchstäblichen Gehirnlosigkeit dank der Interaktion seiner zahlreichen Kerne komplexe Entscheidungen treffen und räumliche Probleme lösen kann. Man bezeichnet ihn deshalb auch als ›natürlichen Computer‹ und zieht ihn als Modellorganismus für die selbstorganisierende, dezentralisierte Robotik heran. In ihrer Performance überließ Sutela ihren Körper dem Schleim und erlaubte seinem schwarmartigen Verhalten, ihr eigenes zu programmieren. 2017 schlug sie mit ›Gut Machine Poetry‹ dann gleich ein biologisches Computersystem vor: Die mikroskopischen Bewegungen einer Kombucha-Kultur wurden dabei von einem Computer überwacht. Die Bewegungen fungierten als Zufallszahlengenerator, wobei die Zahlen mit Text in einer Datenbank interagierten. Die symbiotische Bakterien- und Hefekolonie des Kombucha entwickelte sich sozusagen Hand in Hand mit der Lyrik. Diese Idee erweiterte Sutela schließlich in ›nimiia cétiï‹ (2018). Auch in dieser audiovisuellen Arbeit beobachtete ein Computer die Bewegungen von Mikroben, aber statt lateinischer Buchstaben benutzte er diesmal deren Bewegungen selbst, um eine Art »bakterieller Marssprache« zu erfinden, wie Sutela es genannt hat. Und nun wendet sich diese Künstlerin eben der menschlichen Muttermilch zu—der organischen ebenso wie der synthetisch hergestellten. In ihrer Auseinandersetzung mit HMOs beschäftigt sich Sutela mit den darin enthaltenen Zuckern und ihren Auswirkungen auf menschliche Darmbakterien und unsere kognitiven Fähigkeiten.
»Menschliche Milch hat wirklich einen Einfluss auf diese Darm-Hirn-Verbindung, und das ist eine Komponente, die sich durch die Menschheit hindurchzieht«, sagt sie. »Wir alle kommen mit ihr in Berührung, sei es über die Eltern, eine Amme oder im Austausch zwischen Arten in Form von Muttermilchersatz.«
Diese Idee einer universellen Verbindung bestärkte Sutelas in ihrem Interesse an menschlicher Muttermilch. Deren psychobiotische Potenziale wiederum »besiegelten die Sache«. Aber Sutela ist nicht die Einzige, die sich aktuell für dieses Thema interessiert: Unabhängig von der Frage nach Muttermilchersatz für Neugeborene kamen aufgrund von Wirksamkeitsuntersuchungen zur Verbesserung der Darmgesundheit nun auch präbiotische HMO-Präparate für Erwachsene auf den Markt. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Sutela zwischen 2019 und 2021 mit der Frage, wie sich das menschliche Darmbiom entwickelt und wie sich HMO-Zucker in Kombination mit Darmbakterien auf kognitive Fähigkeiten auswirken—unter anderem während eines Aufenthalts als Gastkünstlerin am MIT Center for Art, Science, and Technology, wo sie mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeitete. Und während sie selbst gerade die Laktation durchlief, beobachtete die Künstlerin Experimente mit menschlicher Milch, die mit Zellkulturen versetzt worden waren, sowie deren unterschiedliche Anwendungen: »Ich bin nicht die einzige Künstlerin, die sich mit Muttermilch oder Themen der Mutterschaft beschäftigt«, bemerkt sie, »aber wenn es dir selbst passiert, ist das auch irgendwie unvermeidbar.«
»›HMO nutrix‹ besteht aus einem zwei Meter hohen Springbrunnen mit synthetisch hergestellter Muttermilch, der mit dekonstruierten Milchpumpen betrieben wird. Die Milch blubbert und sprudelt. Dazu erklingt ein Soundtrack mit biomimetischem Kehlkopfgesang.«
Die aus diesen Nachforschungen hervorgegangene Installation ›HMO nutrix‹ besteht aus einem zwei Meter hohen Springbrunnen mit synthetisch hergestellter Muttermilch, der mit dekonstruierten Milchpumpen betrieben wird. Die Milch blubbert und sprudelt, dazu erklingt ein Soundtrack mit biomimetischem Kehlkopfgesang, eingespielt von Arjopa, einer deutschen Khoomei-Kehlsängerin, mit der Sutela bereits für ›YAMSUSHIPICKLE‹ zusammenarbeitete. Wo ›HMO nutrix‹ physisch allumfassend ist und Muttermilch in ein Objekt des Begehrens und der Faszination verwandelt (ganz ähnlich wie die auf dem Markt erhältlichen präbiotischen HMO-Pulver und Tabletten), fungiert ›Milky Ways‹ eher als ein audiovisuelles Science-Fiction-Gedicht. Das Video verwebt Aufnahmen eines künstlichen Darms in einem Kopenhagener Labor mit kosmisch wirkenden mikroskopischen Details von Muttermilch sowie Landschaften mit weißen Lilien. Weitere biomimetische Lieder von Arjopa werden im Hintergrund abgespielt, in den Untertiteln verschmelzen Wissenschaft und alte Sagen miteinander: einerseits erklärt der Text HMOs (»Humane Milch-Oligosaccharide sind potente Zucker in der Muttermilch, die die Darmflora von Babys speisen und vermutlich die Entwicklung ihrer Nervensysteme beeinflussen«), während andererseits die griechische Sage der Entstehung der Milchstraße nacherzählt wird (»Die Galaxie [aus der Wurzel gala, was Milch bedeutet] hat ihren mythologischen Ursprung bei Hermes, der den kleinen Herakles an die Brust der schlafenden Hera legte, die diesen, als sie erwachte, wegzog, woraufhin die Milch durch den Himmel spritzte«). Verschiedene Geschichten werden hier auf dieselbe Art und Weise vereint, wie bei Sutela wissenschaftliche Forschung zu Kunst wird: durch textliche und ästhetische Poesie.
Zusätzlich zur Muttermilch erforschte Sutela am MIT auch Stuhltransplantationen und bakterielle Therapien—zwei weitere Methoden, mit denen die Darmgesundheit von Erwachsenen verbessert wird. Stuhltransplantationen beispielsweise können helfen, das Mikrobiom einer kranken Person durch das Einführen von Stuhl eine*r gesunden Spender*in neu zusammenzusetzen. Diese sich überschneidenden Forschungsfelder mündeten schließlich in der Serie ›Gut Flora‹, von der einige Arbeiten bis Mitte September 2022 in der Berliner Galerie Société zu sehen sind. Die Serie besteht aus skulpturalen Reliefs von Orchideen, Celosia und anderen Blumen, allesamt mit einer lebendigen, butterähnlichen Oberfläche. So niedlich und unschuldig sie auf den ersten Blick erscheinen, so versteckt sich dahinter—wie immer bei Sutelas Arbeiten—mehr als sich zunächst erkennen lässt: Geformt wurden diese Werke aus dem Kot von Säugetieren, und bei der opaleszenten Oberfläche handelt es sich in Wirklichkeit um Muttermilch (zum Teil um Sutelas eigene).
»Sutelas Praxis umfasst, in ihren Worten, immer ›Lebenskräfte, die in unserer Existenz eine Rolle spielen und mehr als nur menschlich sind, seien dies nun mikrobielle oder maschinelle Kräfte‹.«
»Die Arbeit ist ihrem Wesen nach sehr primordial, was mir zurzeit als die einzig wahre oder selbstverständliche Möglichkeit zu arbeiten vorkommt—ganz, ganz nah am Material, sehr körperlich, unmittelbar verfügbar «, sagt die Künstlerin und bezieht sich dabei insbesondere auf die Erfahrungen während der Pandemie.
Obgleich diese neuen Arbeiten persönlicher mit Sutela verbunden sind als frühere Projekte, sind sie zweifelsohne mit ihrem fortwährenden Interesse an der Verbindung von (Brust), Darm und Hirn verknüpft. Mikroorganismen und ihre oft unsichtbaren Auswirkungen sind in ihrem Werk allgegenwärtig, denn ihre Praxis umfasst, in ihren Worten, immer »Lebenskräfte, die in unserer Existenz eine Rolle spielen und mehr als nur menschlich sind, seien dies nun mikrobielle oder maschinelle Kräfte«. Und weiter: »Überall um uns herum gibt es diese magischen Potenzen, und wenn sie auf die richtige Art reagieren, produzieren sie etwas Größeres als die Summe der einzelnen Teile.« Ob nun als Performance, in einem Algorithmus, in Form eines Videos, eines blubbernden Springbrunnens oder als skulpturale Wandarbeiten—in Sutalas Werken werden genau solche magischen Potenzen manifest.
SCHERING STIFTUNG
Jenna Sutela—Stellar Nursery
15 SEP—27 NOV 2022
Eröffnung: 14 SEP, 18 Uhr