Die Marke der Kunstmetropole Berlin funktioniert weltweit, trotz—oder aufgrund—der dramatischen Entwicklung, die die Stadt seit 1989/90 durchgemacht hat. Vom einstigen Freiraum für kreative Experimente ist wenig geblieben und sogar für Investor*innen wird der Platz langsam knapp, den sich Künstler*innen schon längst nicht mehr leisten können. Das verlangt nach einer findigen Kulturpolitik, an der in der Hauptstadt seit jeher verschiedene Akteur*innen und Instanzen auf ganz unterschiedlichen Ebenen mitwirken. Wie komplex diese vielleicht besser Kulturpolitik ›in Berlin‹ statt Berliner Kulturpolitik genannte Gemengelage strukturiert ist, bleibt in der Debatte jedoch oft zu wenig berücksichtigt.
In der Blütezeit des Kunstbetriebs im wiedervereinigten Berlin der 1990er- und 2000er-Jahre schienen Kultur und Politik in getrennten Sphären zu existieren. So gründet etwa das explosionsartige Wachstum der Kunstszene nach dem Mauerfall im ehemaligen Ostteil der Stadt vor allem auf dem Überfluss an leeren Räumen, günstigen Mieten und einer kreativen ›Do-it‹-Grundstimmung in der Stadt. Bezeichnenderweise war Jutta Weitz, zweifellos die einflussreichste Berliner Kulturpolitikerin der Gründungsphase des ›Neuen Berlin‹ eben das: gar keine Politikerin. Weitz arbeitete in der Abteilung Gewerberaumvermietung des landeseigenen Immobilienunternehmens Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM). Von dort aus versorgte sie fast im Alleingang tausende Künstler*innen auf der Suche nach Ausstellungs- und Atelierflächen im Rahmen von sogenannten ›Zwischennutzungen‹ schnell und unbürokratisch mit Arbeitsräumen.
»Das Ineinandergreifen von Stadtentwicklung, Wirtschaft und Kultur wurde vorrangig von den kulturellen Akteur*innen selbst durchgesetzt, ›von unten‹ also.«
In der 2020 erschienen Studie ›Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre‹ beschreibt die Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Annette Maechtel, wie Weitz den Begriff ›Zwischennutzung‹ taktisch nutzte, um »kulturellen Akteur*innen auf legale und kostengünstige Weise einen Freiraum bereitzustellen«. Die Vergabepolitik von Weitz wirkt bis heute nach. Nicht nur die KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße, sondern auch das Haus Schwarzenberg am Hackeschen Markt und der Schokoladen in der Ackerstraße konnten sich langfristig als Kulturorte in Berlin-Mitte etablieren. Das Ineinandergreifen von Stadtentwicklung, Wirtschaft und Kultur wurde mit ihrer Hilfe vorrangig von den kulturellen Akteur*innen selbst durchgesetzt, ›von unten‹ also.
Die produktive Betriebsamkeit der ›Children of Berlin‹, die sich in den neuen Galerien, Projekträumen, Künstler*innenbars und Technoclubs von Berlin-Mitte entfaltete, machte die ehemals geteilte Stadt fast über Nacht wieder zu einem Ort mit internationaler kultureller Ausstrahlung. Hinzu kam die geschichtliche Dimension: »Berlin läuft Gefahr, die Kultur als Selbstverständlichkeit, als Komfort zu empfinden«, warnte bereits 1994 ein 16-seitiges Gutachten zur Situation der Bildenden Kunst in Berlin, das Kasper König und Wim Beeren im Auftrag des damaligen Kultursenators verfassten und das für Wirbel sorgte. »Die Versuchung dazu ist groß, denn sie beherbergt so viel Geschichte, so viel Kunst der gescheiterten Utopien, die sie par Excellence in eine postmoderne Stadt verwandeln. Mit zwei möglichen Auswirkungen: die eines traurigen Zynismus’ und die eines extremen Konsums. Kultur zum Mieten, zum Kauf, Kultur als soft-drug, als Entourage. In keiner anderen Stadt erlebt man so viel Selbstüberschätzung im Bereich der Gegenwartskunst wie im vormaligen West-Berlin.« Aus der historischen Distanz ist erkennbar, wie weit sich die Stadt in den vergangenen knapp 30 Jahren entwickelt hat—und wo sie stagniert.
Andere kulturpolitische Prozesse der Neunziger gestalteten sich zäh. Der Vereinigung von Akademie der Künste Ost und ihrem westlichen Gegenstück 1993 etwa ging eine zweijährige Diskussionsphase voraus. Nach Ansicht des Dramatikers Heiner Müller wurde es am Ende »keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe«. Heftig gestritten wurde auch infolge des Zusammengehens der großen Berliner Ost- und West-Museen im sogenannten ›Berliner Museumstreit‹ um die Neugestaltung der Museumsinsel und die Neuordnung der musealen Sammlungen.
Die Bundespolitik schließlich schien sich in den Jahren nach der Vereinigung zunächst hauptsächlich mit der national-repräsentativen Hauptstadtarchitektur im neuen Regierungsviertel zu beschäftigen. Exemplarische kulturpolitische Diskussionen in der Frühzeit der ›Berliner Republik‹ drehten sich etwa um die Kuppel für das vom britischen Architekten Norman Foster umgebaute ehemalige Reichstagsgebäude, die Verhüllung desselben Gebäudes durch Christo und Jeanne-Claude oder das Kunstwerk ›Der Bevölkerung‹ von Hans Haacke in dessen nördlichen Lichthof.
»›Berliner Kulturpolitik‹ wird an vielen Orten in der Hauptstadt betrieben, aber zudem auch außerhalb von Berlin gemacht.«
1998 schließlich, unter der ersten rot-grünen Regierung, wurde das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) aus der Taufe gehoben, um die kultur- und medienpolitischen Aktivitäten des Bundes in einer Regierungsbehörde zu bündeln und ihnen so einen institutionellen Rahmen zu geben. Aktuell steht die kulturpolitische Frage im Raum, ob trotz der im Grundgesetz verankerten Kulturhoheit der Länder angesichts der stetig gewachsenen Aufgaben im Kulturbereich nun der Moment gekommen ist, das BKM zu einem eigenen Bundesministerium aufzuwerten. Einige Argumente sprächen dafür. So wurde in der Corona-Krise das Fehlen einer starken Lobby für die Kulturproduzent*innen in der Bundesregierung und die Geringschätzung der Kultur besonders deutlich.
›Berliner Kulturpolitik‹ wird an vielen Orten in der Hauptstadt betrieben: auf Stadtbezirksebene in den Kulturämtern, in der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, im Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten im Berliner Abgeordnetenhaus oder auf Bundesebene im Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Und natürlich hat Bildungs-, Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik auf allen Ebenen ihren Einfluss. ›Berliner Kulturpolitik‹ wird zudem auch außerhalb von Berlin gemacht. Zum Beispiel in Bonn, wo das bundesunmittelbare Immobilienunternehmen Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) ihren Hauptsitz hat.
Die BImA verwaltet etwa das ehemalige Berliner Kulturzentrum der Tschechoslowakei in der Leipziger Straße, das seit Sommer 2016 von der Sammlerin Julia Stoschek als Ausstellungshaus genutzt wird. Weil sich die BImA vor einiger Zeit weigerte, das wertvolle Gebäude und Grundstück im Berliner Zentrum aus dem öffentlichen Portfolio an die milliardenschwere Sammlerin zu verkaufen, sprich: zu privatisieren, drohte Stoschek strategisch geschickt und öffentlichkeitswirksam mit dem Wegzug aus Berlin. Der Fall Stoschek zeigt, wie wichtig es ist, zu differenzieren. Immer wenn ›die Berliner Kulturpolitik‹ pauschal angeprangert wird, sollte man sich die Mühe machen, genauer hinzusehen und zu analysieren, wer mit welchen Interessen in den öffentlichen Diskurs tritt und um was es dabei genau geht.
»Auch wenn es dem Publikum in der Regel egal sein dürfte, wer wofür genau zuständig ist, so prägt das kulturpolitische Neben-, Gegen- oder Miteinander die institutionelle Landschaft der Hauptstadt.«
Teilzuständigkeiten und Kompetenzgerangel erscheinen dennoch symptomatisch für die Widersprüche, die die Kulturpolitik in Berlin stärker bestimmen als anderswo. Auch wenn es dem Publikum in der Regel egal sein dürfte, wer wofür genau zuständig ist, so prägt das kulturpolitische Neben-, Gegen- oder Miteinander die institutionelle Landschaft der Hauptstadt. Der Gleichmut darüber, dass der Hamburger Bahnhof, getragen von der bundesunmittelbaren Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) eine nationale, die Berlinische Galerie eine kommunal getragene Museumseinrichtung ist, dass es sich bei C/O Berlin mit seinem Schwerpunkt auf Fotografie um ein privates Ausstellungshaus handelt, das als gemeinnützige Stiftung aufgestellt ist, hört dort auf, wo es beispielsweise um finanzielle Fragen geht.
Als etwa die Gründungsintendanten des Humboldt Forums (HuFo) 2016 einen durchgängig freien Eintritt ins Gespräch brachten, traf dies schnell auf Widerspruch, da finanziell weniger gut aufgestellte Museen Berlins finanzielle Verluste aufgrund dieses ›Konkurrenzvorteils‹ fürchteten. Anders als das Humboldt Forum als Prestigeprojekt des Bundes sind die anderen Museen, etwa die auf der Museumsinsel, durchaus auf Eintrittsgelder angewiesen. Trotzdem hatte Neil MacGregor, Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt Forums, einen Punkt: »Da wo man keinen Eintritt bezahlen muss, kommt die lokale Bevölkerung viel häufiger in das Haus. Da, wo man zahlen muss, kommen vor allem die Touristen.«1 Die Frage der Eintrittsgelder ist also politisch und zieht sich nun wie ein unsichtbarer Graben durch das Humboldt Forum. So ist der Eintritt in den jetzt geöffneten Ausstellungen nur bis Mitte November überall frei. Danach wird beispielsweise ›Berlin Global‹, die Berlin-Ausstellung im Humboldt Forum für Erwachsene, ohne Ermäßigung sieben Euro kosten.
Man könnte die Sache mit den Eintrittspreisen als skurrile Fußnote abtun, doch sie deutet auf tiefere interne Probleme hin. Längst ist das Humboldt Forum selbst zu einer Art Mahnmal für eine verfehlte Kulturpolitik geworden. Die Binnenorganisation der Institution wurde kürzlich von einer Fachkommission des Wissenschaftsrats in einem Untersuchungsbericht als »komplex« und »konfliktanfällig« beschrieben. Für den Betrieb des in diesem Jahr stufenweise eröffnenden Kulturbaus sei ein »hohes Maß an Abstimmung« erforderlich.
Auch das Schicksal des Hamburger Bahnhof—Museum für Gegenwart—Berlin, das zur Berliner Nationalgalerie gehört und somit Teil der Staatlichen Museen zu Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist, dürfte als Trauerstück in die Geschichte der Berliner Kulturpolitik eingehen. Der Grund, ehemaliges Bahngelände, auf dem das Museum steht, gehört einem privaten Investor, der seit langem darauf drängt, die erst 2004 in Betrieb genommenen Rieck-Hallen abzureißen. Ende dieses Jahrs ist es nun so weit. Der Berliner Bebauungsplan sieht nur den Erhalt des historischen Hauptgebäudes vor. Das Land ist nun gefragt, eine Alternative anzubieten—auch wenn das Gegenwartskunstmuseum als Institution unter dem Dach der SPK auf der großen ›nationalen‹ Bühne spielt und von seinem Hauptgeldgebern dennoch notorisch kurzgehalten wird. Hier offenbaren sich die Tücken—und Lücken—der tiefgestaffelten Kulturpolitik in Berlin. Umso mehr, wenn an unterschiedlichen Stricken gezerrt wird.
1.https://www.youtube.com/watch?v=erTjcXc4qPE&ab_channel=TV.Berlin-DerHauptstadtsender, TC: 05:50↩