Woran arbeiten Sie gerade?
Ich arbeite gerade an der zweiten Arbeit der Choreografie-Filmserie. Der erste Film ›Wish You a Lovely Sunday‹ (2021) hat seine deutsche Premiere ab September in der Julia Stoschek Foundation in Berlin und Düsseldorf. Beide Filme stellen zwei drastisch unterschiedliche Situationen einander gegenüber und versuchen, diese durch queere Körper und Tanz miteinander zu verschmelzen. Der erste wurde in der Kirche am Südstern und im queeren Club Schwuz in Berlin aufgenommen; und der zweite triggert die Hyper-Maskulinität des Karwochen-Rituals der Soldaten der Spanischen Legion und die Hyper-Femininität, die von zahlreichen Tänzern verehrt wird, die in Kenneth MacMillans Ballett ›Manon‹ (1974) eine liebeshungrige Protagonistin hochheben und tragen. In diesem neuen Film ›Love Your Clean Feet on Thursday‹ (2023), der diesen November im Atelier Hermès in Seoul seine Premiere haben wird, füllen sechs schwule Tänzer die Lücke zwischen der konventionellen Hyper-Binarität von Genderpräsentationen, indem sie Intimität in einer neuen Choreografie in Berlin-Grunewald verkörperlichen.
Eine solche haptische Visualität in dem immateriellen Medium und ein Interesse am Glauben werden andererseits auch in meiner skulpturalen Praxis weitergeführt. Ich versuche, mit den Skulpturen und Filmen meinen imaginären Tempel zu bauen, und in diesem Kontext arbeite ich gerade an einer neuen Serie wie beispielsweise einem monumentalen schwulen Weihnachtsbaum und St. Nikolaus die Wurst, der der Hl. Johanna dem weißen Spargel folgt.
Was lesen oder hören Sie gerade?
Ich lese ›Gender, Nation and Religion in European Pilgrimage‹, herausgegeben von Wily Jansen und Catrien Notermans, während ich das neue Album von NewJeans höre. Es ist interessant, dass man dazu neigt, sich etwas fehl am Platz zu fühlen, sowohl in seiner ursprünglichen Community als auch in einer neuen Umgebung, und man dann, im Einklang mit seinen Bedürfnissen, um sich herum eine mobile Festung aus bestimmten Glaubenssätzen und Überzeugungen aufbaut, um diese mitzunehmen und so das ersehnte Gefühl der Zugehörigkeit zu erreichen. Das ist nicht auf Religion beschränkt, sondern es geht auch um kollektive Kultur, Bräuche, Normen und politische Neigungen.
Was braucht es für gute Kunstvermittlung?
Wenn die Kunst den Betrachtenden ihre eigenen immersiven Parallelwelten oder auch vervielfachten Realitäten suggeriert und sie in diese einlädt, und diese Erfahrung dann ihre Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit (was immer das sein mag) sinnhafter macht.
Haben Sie ein Lieblingsgebäude?
Für mich sind es allgemein Kirchen und kein spezifisches Gebäude. Wenn ich eine neue Stadt besuche, ziehen sie mich unweigerlich an, und es fühlt sich an, als würde ich versehentlich in eine Senkgrube fallen. Sie stechen oft mit ihrer Extravaganz hervor und zwingen die Besucher*innen fast, sich negativ oder positiv auf bestimmte Verhaltensmuster, Geisteshaltungen und Stimmungen einzulassen. Ihre Architektur und die Konfiguration von Objekten gestalten unsere Körperhaltungen, die anders sind als unsere täglichen Routinen, indem wie beispielsweise in die Höhe blicken oder uns hinknien. Dies bringt uns dazu, uns aktiver auf die Gegenstände und die Umgebung einzulassen. Viele Menschen auf der Welt haben ziemlich konkrete (oder zumindest vage) Vorstellungen über die innerer und äußere Struktur von Kirchen. Ich bette diese Eigenschaften gern in meine Arbeit ein: beispielsweise lasse ich Betrachter*innen in meiner Ausstellung konzeptuell einen Schrein bauen, indem sie meine Arbeiten arrangieren, die oft von Kirchengegenständen oder -Objekten inspiriert sind, nach den Grammatiken religiöser Architekturen. Außerdem macht es mir Spaß, bei Kirchenbesuchen nach eigenartigen, schrulligen Gemälden und Skulpturen zu suchen, die trotz der jahrhundertelangen starren Formensprache christlicher Kunst von anders gesinnten Künstlern geschaffen wurden. Für mich als Nicht-Gläubiger ist das meine geistliche Verbindung.
Wen würden Sie gerne einmal kennenlernen?
Cady Noland. Ich bin immer noch ein relativer Anfänger, und sie ist eine vorsätzliche Beenderin. Ich verstehe ihre Frustration über die ja ziemlich schwache Rolle der Künste bei erdrückenden gesellschaftlichen Themen, und ich würde gern hören, wie ihr Leben jetzt ist, ohne noch Werke zu produzieren, seit dem starken Abschiedsmanifest. Ihre rechtlichen Auseinandersetzungen jetzt und damals sind ja weithin bekannt, und ihre Retrospektive im MMK in Frankfurt 2018, die mich vom Kopf bis zu den Füßen erschüttert hat und für die Welt eine große Überraschung war, weshalb es manche auf boshafte Weise aufregend finden könnten, sie als sehr kalkulierende Akteurin zu brandmarken, aber egal, welchen Anspruch sie hat, ihre Entschlossenheit, Worte und Visualisierung sind immer noch ausgesprochen wirkungsmächtig und gültig. Ich weiß nicht, ob dieser Wunsch, sie kennenzulernen, mich dafür verteidigen soll, dass ich es immer noch ›mache‹, und zwar mit leidenschaftlicheren Rechtfertigungen, von denen sie mich abbringen würde, oder ob ich mit Lebensunterricht von ihr ein besserer Konsument schlechter Nachrichten werden will, aber ich habe wenig Hoffnung, dass es mir gelingen könnte, mir Raum zu verschaffen, um die Bitterkeit des Teufelskreises der menschlichen Geschichte so zu genießen wie den Biss in ein Stück dunkler Schokolade mit 90% Kakaogehalt. Ich bin auch neugierig, ob die sie diesen kleinen Keim mitleidslos abschneiden würde, oder ob sie mich vorerst ermutigen würde, bis ich mit meinem Kopf gegen dieselbe Mauer schlage, die auch sie konfrontiert hat.
Haben Sie ein tägliches Ritual?
Duolingo: ich bin der glücklich verlassenen Ehemann, wenn America Ferrera spontan ins Barbieland verreist.
Welcher Gegenstand darf nicht fehlen?
Ich bin da ziemlich widersprüchlich: perverserweise mag ich das Gefühl von Gänsehaut, wenn ich in eine maximalistischen üppigen barocken Kirche bin, aber ich bin auch fasziniert, wenn ich im Frankfurter Flughafen mit seiner klinisch trockenen Erhabenheit herumschlendere. Ich trage nie irgendwelche Accessoires, aber ich habe immer auf die effizienteste Art und Weise eine Auswahl von Dingen um mich herum, wie aufmerksame Eltern. Daher habe ich keinen Gegenstand wie in der Frage, denn das kann nichts oder alles sein.
Was ist Nachhaltigkeit für Sie?
Wenn sie nicht im Namen der eigenen Gefühle narzisstisch ist.
Was wünschen Sie sich für Berlins Kunst- und Kulturlandschaft?
Bitte bringt wieder bezahlbare Ateliers zurück!
Was machen Sie nach getaner Arbeit?
Täglich ein gemütliches Abendessen mit meinem Partner. Ich schätze die Details von Wiederholungen im Leben, und alles Lachen, Jammern und auch alle Stille mit ihm am Esstisch geben mir Kraft und machen mich für den nächsten Sprung bereit.