In Kooperation mit Berlin Art Link
Marianna Simnett scheint in ihrem Atelier in der Siemensstadt über ein beeindruckendes Aufgebot an Leuchtkörpern zu verfügen; das leuchtet ein, denn der Raum befindet sich in einer früheren Glühbirnenfabrik, die ansonsten vollkommen leer steht. Während die Künstlerin uns lächelnd und höflich herumführt, wird schnell deutlich, dass sie mit einem breiten Spektrum an Medien arbeitet. Papierrollen, die Simnett als »Aquarell-Misserfolge« bezeichnet, liegen schlummernd in einer Ecke, während anderswo Wachsabgüsse der Gesichter von Freund*innen im Regal darauf warten, dass die Künstlerin die Sache mit den Luftbläschen löst. Auf einer Seite des Ateliers ist eine noch nicht abgeschlossene Arbeit die, wie sie erklärt, ein (online) Eckladen wird, ein Ableger ihrer künstlerischen Arbeit. Der Laden, der an den von den YBA-Künstlerinnen in den 1990er Jahren geführten Shop erinnert, wird selbstproduzierte Dinge wie Drucke, T-Shirts, Kissen, Aschenbecher und ›Boyzinbeasts‹ (Zeichnungen von nackten, in Tieren gefangene Männern) anbieten. In einer weiteren Ecke des Ateliers werden Kerzen in der Form ihrer Kindheitsflöte modelliert.
Als wir uns setzen, erzählt sie uns über ihre aktuelles Projekt Project ›GORGON‹ (2023). Als Flötenoper beschrieben, wurde die Performance von der LAS Art Foundation in Auftrag gegeben und wird im HAU Hebbel am Ufer (HAU 2) in während der diesjährigen Ausgabe der Berlin Art Week zum ersten Mal aufgeführt. Diejenigen, die Simnetts Videoinstallationen kennen, werden die Verbindung von neu imaginierten Mythen, einer märchenhaften Dunkelheit und Humor erkennen. Die Performance, von Simnett geschrieben, komponiert und inszeniert, folgt der Figur von Greta, die in einem Doughnut-Stand in einer unterirdischen, fensterlosen U-Bahnstation arbeitet und sich in eine »neue, magische, abgefuckte Welt« hineinwünscht. Dort begegnet sie Gorgon, einem seine Form verändernden Wesen mit einem grauenvollen Schrei. Die berühmteste Gorgo der klassischen Mythologie ist Medusa, deren beide Schwestern, als sie von ihrem Tod erfahren, schrill schreien. Die Göttin Athena, die Unruhestifterin, von der Greta abstammt, war vom »Weinen der Schwestern dazu motiviert, ein Instrument zu erfinden, das so stark sein würde wie der Klang ihrer Schreie«, erklärt Simnett. »Also erfand sie die Flöte, die nicht die westliche Flöte war, wie wir sie kennen, sondern ein heftiges, starkes, riedbasiertes Instrument, das einen heultonartigen Klang ausstieß.«
Simnett hat eine 60-Minuten-Partitur komponiert und ein dazugehöriges Libretto geschrieben; an der Performance ist ein Ensemble von vier Flötist*innen und zwei Sänger*innen beteiligt. Der Klang der Flöte wird mit einer KI-Technologie namens Timbre Transfer verändert, so dass er wie »ein Bienenschwarm oder industrielles Kreischen oder Wettergeräusche« klingt. KI wird auch eingesetzt, um die Stimme von Greta in die von diversen politischen Führungspersönlichkeiten zu mutieren und um die Figur der sich verändernden Gorgo zu machen, die auf der Bühne als Projektion erscheinen wird. Die Technologie erlaubt ein »Durcheinandermischen von Chronologie«, was die desorientierende Transformation noch verstärkt, auf die man immer wieder in Simnetts Arbeiten stößt. In ›GORGON‹ wird Mimikry für Verwandlung verwendet, teilweise von der Natur inspiriert. Im Atelier blättert Simnett durch einen Ordner mit Skizzen, Illustrationen und Bildern von Wesen, die sich mit Mimikry entwickelt haben: Spinnen, die Ameisen imitieren; der Caligo-Schmetterlimng, dessen hintere Flügel den Augen einer Eule ähneln, Ein Oktopus, der sich in die Form einer Flunder, einer Seeschlange oder einer Krabbe verwandeln kann. Der Einsatz von KI im Simnetts Arbeit erkundet die Zeitgeist-Möglichkeiten des maschinellen Lernens durch die Linse der Mimikry und den aktuellen ethischen Debatten zum Thema Einverständnis, insbesondere in der Ära von ChatGPT. Auch als eine Gesellschaft, die immer mehr von der Natur losgelöst ist, verweisen die Verzerrungen in ›GORGON‹ darauf, dass diese Beziehung immer mehr verdrängt, vertrieben und durcheinander gebracht wird.
Tiere, die brillant aufeinanderstoßen, erscheinen in Simnetts Arbeit häufig surreal und vermenschlicht. An einer Wand des Ateliers ist »CAUTION ROADKILL« zu lesen, in blutigem hellem Rot hingekritzelt auf Wandbehänge: ein Verweis auf Simnetts ›Prayers for Roadkill‹ (2022). Die Filminstallation zeigt echte überfahrene Tiere , die Simnett und Freundin*innen während der Pandemie eingesammelt haben und die die Künstlerin selbst in der Nacht präpariert hat, da »der Gestank für das Team im Atelier zu unerträglich war«. Die Kreaturen führen zu ihren eigenen Mini-Storys—ein Fuchs und ein Waschbärehepaar spielen ihren eigene Tod auf der Straße in einem Sportwagen nach, eine Waschbärmutter wiegt ihr Baby versehentlich zu Tode und eine Hausfrau wird von ihrem Haus, das sich in einen Kadaver verwandelt, verschluckt. Für die Künstlerin ist die Art und Weise, wie wir die nicht-menschliche Welt behandeln, der Grund für ihr Interesse daran. Es ist eine Beziehung aus Fürsorge und Gewalt, die nicht einfach nur zwischen diesen Punkten pendelt. Wie man an der unglücksseligen Fürsorge der Waschbärmutter sieht, sind sie auf tückische und komplexe Art und Weise miteinander verflochten. »Ich habe mit Angst und Beklemmung zu tun«, sagt Simnett. »Ich arbeite mit einem Zustand der Sorge und Ängstlichkeit, von dem ich glaube, dass er uns allen unter der Haut sitzt.«
Ich frage mich dann, ob sie den Prozess der Transformation in ihrer Arbeit als eine ermutigende, aufbauende Erfahrung erlebt. Simnett visualisiert dies mehr als eine Art Druck, etwas, was sich in der Ecke aufbaut, in die man gedrängt wird. Transformation findet an dem Ort statt, wo Notwendigkeit und Überleben Hand in Hand gehen. Wenn der Druck sich entlädt, entweicht er in alle Richtungen. Diese Möglichkeit gibt den Geschichten, die Simnett durch ihre Arbeiten erzählt, eine Unvorhersehbarkeit. Wie bei ihrer Verwendung von Märchen und Mythen erschafft Simnett eine Welt, die Betrachter*innen zunächst erkennen, indem sie bekannte Brotkrumen auslegt, bis sie, wenn man den Weg schon weit genug mitgegangen ist, sie den Boden unter den Füßen wegzieht und unsere Erwartungen resolut durcheinanderbringt.
Hinsichtlich ihrer künstlerischen Praxis hat Simnett auch ihre ganz eigene Herangehensweise. Sie hat ein Patreon-Account, dort können Abonnent*innen einen monatlichen Beitrag nach ihrer Wahl bezahlen und dann regelmäßige Updates aus dem Atelier erhalten und mehr über ihre künstlerischen Prozesse erfahren. »Ich habe viele studentische Abonennt*innen«, fügt sie hinzu. Wie auch mit ihrem Shop interessiert sich Simnett dafür, mit »neuen Wegen außerhalb von traditionellen Strukturen« zu arbeiten und Community ins Spiel zu bringen. Im Atelier isst das Team zäglich zusammen und hat die einfache Absicht, eine »schöne Energie und gute Stimmung« zu schaffen. Ein gemeinschaftlicher Geist ist im Zentrum ihrer Praxis. Bevor wir gehen, nimmt Simnett ihre Flöte aus ihrer Halterung und spielt für ein paar Minuten. Die Noten sind hell und scharf, weich und ruhig, und wir werden einen Moment lang in genau demselben Geist zusammengehalten, der vom Klang des Instruments transportiert wird.
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