Der Hug-Move

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Käthe Kollwitz, Die Mütter, Bl. 6 der Folge ›Krieg‹, 1921/1922 © Käthe Kollwitz

Künstler Isaac Chong Wai im Gespräch über seine neue Performance, die während der Berlin Art Week erstmals in der Klosterruine zu sehen sein wird.

Isaac Chong Wai ist für seine konzeptuelle, politische und poetische Performancepraxis bekannt. Während der Berlin Art Week 2022 wird der in Berlin und Hongkong lebende Künstler erstmals eine Performance aufführen, die auf dem Holzschnitt ›Die Mütter‹ von Käthe Kollwitz basiert und eine Hommage an diese Arbeit darstellt. Die ursprüngliche Arbeit von 1921—22 zeigt eine Gruppe zusammengekauerter Frauen und ist Teil der Serie ›Krieg‹, die 1923 als Mappe mit sieben Holzschnitten publiziert wurde. Sie rückt diejenigen ins Zentrum, die während und nach dem Ersten Weltkrieg zurückgeblieben sind: Mütter, Witwen, Kinder. Chong Wai hat Kollwitz’ historische Arbeit nun in eine bewegende Choreografie übersetzt, zunächst in einem Video und nun in einer Live-Performance, die ebenso den Titel ›Die Mütter‹ trägt. Hier spricht er über sein Interesse an Kollwitz’ Holzschnitt, wie er ihn in eine Performance verwandelt hat sowie über die Bedeutung des Ortes, an dem seine Arbeit uraufgeführt wird: Berlins ikonische Klosterruine.


Das Video und die Performance ›Die Mütter‹ ist auf Grundlage von Käthe Kollwitz’ gleichnamigem Holzschnitt entstanden. Können Sie das Projekt kurz vorstellen und erzählen, wie es dazu kam?

Das Ganze begann als Teil der von Inka Gressel und Susanne Weiß kuratierten Ausstellung ›Spheres of Interest*‹ in der ifa-Galerie Berlin. Teilnehmende Künstler*innen waren eingeladen, neue Arbeiten als Reaktion auf die Sammlung des ifa zu produzieren. Einige Künstler*innen suchten sich ein spezifisches Kunstwerk aus. Manche wählten einen Katalog. Mein Interesse galt Käthe Kollwitz, denn ich hatte bereits zuvor einige Arbeiten gemacht, die mit ihr in Verbindung stehen. 2015 habe ich beispielsweise am Maxim Gorki Theater in Berlin eine Arbeit mit dem Titel ›Neue Wache‹ im gleichnamigen Gebäude realisiert. In der Neuen Wache befindet sich die Skulptur ›Mutter mit totem Sohn‹ (1937—38) von Käthe Kollwitz. Das war die allererste Verbindung, die ich zu Kollwitz hatte. Bei der Durchsicht der ifa-Sammlung hat mich ›Die Mütter‹ gleich gepackt. Ich war fasziniert von der Arbeit—vom Ausdruck, von der Emotion, all diese Dinge. Und ich dachte mir: »Das sieht ganz wie eine Performance aus, wie eine Choreografie.« Also habe ich mich entschlossen, eine neue Arbeit zu produzieren, die zunächst als eine Zweikanal Videoarbeit herauskam und jetzt in der ifa-Galerie Berlin zu sehen ist—und nun eben als Performance aufgeführt wird.


Warum haben Sie sich entschieden, ein Video und eine Performance zu machen?

Als ich beide Arbeiten entwickelt habe, habe ich mich auf die Choreografie einer großen Gruppenumarmung konzentriert, denn bei ›Die Mütter‹ sind die Figuren in einer Art Gruppenumarmung dargestellt: eine Gruppe von Müttern, die sich umarmen und so eine Art Schutz oder Unterschlupf schaffen. Es gibt in dem Holzschnitt auch ein paar Kinder, die sich umarmen. Ich wollte diese Umarmung in Bewegung bringen. In meiner Arbeit bewegt sich die Gruppenumarmung ständig, und dazu singen alle.

Performance: Die Mütter, Isaac Chong Wai, Courtesy by the artist

Was singen die Performer*innen? Und wie haben Sie die Lieder ausgesucht, die gesungen werden sollten?

Ich habe mit der Musikerin Dagmar Aigner gearbeitet, die seit über zehn Jahren mit einer Singgruppe von Trauernden arbeitet. Sie hat die ganze Musik angeleitet, darunter finden sich unterschiedliche Dinge—manche Lieder sind wirklich der Trauer gewidmet, andere sind eher eine Art Singsang. Manchmal sind es nur Melodien ohne Text, dann wieder wird improvisiert. Wir haben auch die Performer*innen gefragt, ob es Lieder gibt, die sie gern beitragen würden, und Zaki Hagins, ein afro-amerikanischer Sänger, hat den Song ›Deep River‹ vorgeschlagen, ein ganz berühmter Trauergospel. Es gibt auch Lieder wie das Mantra ›Lokah Samastah Sukhino Bhavantu‹ in Sanskrit und ›Ruhn in Frieden alle Seelen‹ von Franz Schubert. Es sind also unterschiedliche Lieder, aber wir singen nie das ganze Lied, sondern suchen uns nur bestimmte Fragmente aus. Ich neige auch dazu, religiöse Kontexte zu meiden, also suche ich die Passagen aus, die nicht direkt mit der Religion verbunden sind. ›Deep River‹ mag beispielsweise ein Gospel-Song sein, aber wenn wir es singen, überspringen wir den Teil über den Jordan.

Sie sagen, Sie versuchen, religiöse Kontexte zu meiden, doch die Performance findet in der Klosterruine statt. Wie denken Sie über die Geschichte dieses Ortes hinsichtlich dieser Arbeit und Ihrer Vermeidung religiöser Kontexte?

Ich habe sichergestellt, dass die Arbeit nicht nur in der Klosterruine aufgeführt wird; die Performance reist auch an andere Orte. Aber gleichzeitig haben Sie natürlich Recht: Natürlich gibt es da eine religiöse Präsenz; es ist eine kaputte Kirche. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg bombardiert, und als ich mit den Leuten dort gesprochen habe, sagten sie mir, der Ort repräsentiere auch die Geburt von Berlin. Mit ›Die Mütter‹ geht es mir nicht nur um Zerstörung und Trauer, sondern auch um Geburt und Tod, und deshalb finde ich die Klosterruine einen sehr interessanten Raum. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich die Performance in einer normalen Kapelle auf die Bühne bringen würde, aber die Klosterruine ist eben etwas ganz besonderes. Sie ist nicht nur religiös; sie ist wichtig und bedeutend für das Erbe Berlins.

IFA-GALERIE @ KLOSTERRUINE
Isaac Chong Wai feat. Käthe Kollwitz ›Die Mütter‹
Performance
15 und 16 SEP 17—19 Uhr

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