Wie kam es zu dem Konzept dieser Ausstellung?
›Más Allá, el Mar Canta‹ stellt innerhalb meiner Arbeit ein neues Kapitel dar, das aber in einem schon länger bestehenden Motiv wurzelt. In meiner Arbeit geht es mir darum, die Auswirkungen der Kolonialität auf die molekulare Dimension unserer Körper und die Struktur der Sprache zu hinterfragen. Es ist bekannt, dass wir es nicht einfach bei einer Kritik der Kolonialität belassen können. Wir sollten die in die Ruinen der Kolonialgeschichte eingeschriebenen Potenziale imaginieren, indem wir uns fragen, was aus diesen Ruinen entstehen kann. Indigene künstlerische Praxen haben uns gelehrt, dass Subjektivität an der Schnittstelle von Überlieferung und der heutigen Situation ebenso möglich wie notwendig ist.
Mit der Ausstellung ›Más Allá, el Mar Canta‹ möchte ich diese Anliegen über eine Untersuchung der chinesischen Diaspora in Mittelamerika thematisieren. Die kolonialen Konfigurationen in der Region sind komplex und zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Prozesse der ›Rassifizierung‹ aus. Mittelamerika steht am Kreuzungspunkt des langfristigen Widerstands indigener Völker, diasporischer Kulturen, Sklaverei, nichtkolonialer Begegnungen und der Verbrechen des britischen, spanischen und portugiesischen Kolonialismus. ›Más Allá, el Mar Canta‹ zeichnet die ›kleinen‹ Geschichten einer großen Geschichte nach. Es ist eine Ausstellung über Zugehörigkeit, Migration und Resilienz.
»›Más Allá, el Mar Canta‹ zeichnet die ›kleinen‹ Geschichten einer großen Geschichte nach. Es ist eine Ausstellung über Zugehörigkeit, Migration und Resilienz.«
Können Sie mir mehr über die Auswahl der Künstler*innen erzählen?
Hier spielen zwei methodologische und konzeptuelle Achsen eine Rolle: zum einen diasporische Kulturen, zum anderen Arbeit. Während der Ankerpunkt stets die chinesische Diaspora bleibt, bewegen sich die Reaktionen der Künstler*innen zwischen dem Autobiografischen und dem Referenziellen, zwischen forschungsbasierten Praktiken und sehr viel intuitiveren Prozessen. Als ich das Projekt geplant habe, wollte ich rein referenzielles historisches Arbeiten vermeiden, also keine Geschichte im Sinne einer Archäologie anbieten. Stattdessen ging es mir um ein intuitiveres und sinnlicheres Ausstellungserlebnis. So arbeitet beispielsweise Naufus Ramírez-Figueroa an einer eigens in Auftrag gegebenen Arbeit, in der er die Geschichte des chinesischen Tees in Guatemala anhand deutscher Siedler im achtzehnten Jahrhundert untersucht. Andrea Chung präsentiert eine immersive Installation mit Cyanotypien, die den Rotfeuerfisch als Metapher begreifen, mit der auf Geschichten des Siedlerkolonialismus und invasive Arten in der Karibik aufmerksam gemacht werden kann. Was die verschiedenen Medien anbelangt, so gibt es Klanginstallationen und bewegte Bilder, etwa bei David Zink Yi, ebenso wie auto-ethnografische Archiverkundungen von Colectivo Hapa und die ikonischen modernistischen Malereien von Sybil Atteck. Über letztere freue ich mich ganz besonders.
»Ich interessiere mich weniger für Besonderheiten als dafür, wie bestimmte Eigenheiten eine Art Fenster sein können, um die Welt zu erspüren.«
Was ist an dieser Geschichte chinesischer Immigration so besonders?
Ich interessiere mich weniger für Besonderheiten als dafür, wie bestimmte Eigenheiten eine Art Fenster sein können, um die Welt zu erspüren. Darüber aus unseren Braunen und Schwarzen Körpern heraus zu sprechen, ist von unglaublicher Bedeutung für unsere kollektive Heilung und für die Wiederherstellung eines sozialen Gefüges, das nicht von kolonialer Gewalt geprägt ist. Beim Nachdenken über die Beziehung zwischen bestimmten Eigenheiten und der Welt heißt es bei den Zapatistas sehr schön: »por un mundo en donde quepan todos los mundos« (für eine Welt, in die alle Welten passen).
Die chinesische Diaspora in der Region ist geprägt von unterschiedlichen Entwicklungslinien. Im späten 19. Jahrhundert waren Tausende von chinesischen Arbeitern zu den kürzlich entdeckten Goldminen nach Kalifornien immigriert. Von dort zogen viele von ihnen um die Wende zum 20. Jahrhundert nach Mexiko weiter, wo sie sich mit extremer Ausbeutung, Diskriminierung, Armut und den neuen Migrationsgesetzen der mexikanischen Revolution konfrontiert sahen—und sich deshalb weiter in Richtung Süden nach Mittelamerika und in die Karibik aufmachten, wo sie auf andere unabhängige Arbeiter*innen trafen. Chinesische Arbeiter*innen spielten eine zentrale Rolle beim Bau des Panamakanals. Chinesische Arbeiter*innen halfen auch dabei, in Belize die Holzindustrie aufzubauen. Und chinesische Arbeiter* waren neben afrikanischen und indigenen auf den Bananenplantagen der UFCO (United Fruit Company) der interventionistischen CIA in Honduras, Nicaragua und Guatemala beschäftigt.
Das Projekt der Moderne im 20. Jahrhundert war nur aufgrund kolonialer Ausbeutung und diasporischer Süd-Süd-Bewegungen über die Ozeane hinweg möglich. Die chinesische Diaspora hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die kulturelle Produktion des 20. Jahrhunderts in der Region, mit Schlüsselfiguren wie dem afrochinesischen Kubaner Wifredo Lam oder der zuvor erwähnten Sybil Atteck, einer Trinidaderin chinesischer Abstammung.
»Binär zu denken, löscht die lebendige Geschichte des Widerstands und der transkulturellen Befruchtung aus, die seit Jahrhunderten in diesen angestammten, aber besetzten Gebieten existiert.«
Können Sie uns etwas über die multiethnischen Schnittstellen erzählen, die als Systeme des Widerstands fungieren und über die schöpferische Kraft des Interkulturellen?
Tangential, unter und über dem gewaltsam kolonial aufgezwungenen universalen Wissenssystem haben andere Kräfte agiert, haben widerstanden und waren schöpferisch aktiv. Binär zu denken, löscht die lebendige Geschichte des Widerstands und der transkulturellen Befruchtung aus, die seit Jahrhunderten in diesen angestammten, aber besetzten Gebieten existiert. Die Kehrseite der Kolonialität besteht aus reichhaltigen Begegnungen nicht-westlicher Kulturen, die nicht nur überlebt haben, sondern das kollektive Selbst unter veränderten Bedingungen neu imaginiert haben. Resilienz und Imagination sind die Grundpfeiler diasporischer Geschichte(n). Man denke beispielsweise an die Garifuna-Kultur in Zentralamerika, die Latinx in den USA oder die chinesische Diaspora. So leben wir und so überleben wir. So werden wir miteinander verwandt.
Erkunden Künstler*innen in der Ausstellung, wie diese spezifische Migration Verwandtschaftssysteme und Ontologien interethnischer Intimität hervorgebracht hat?
Ich bin der Überzeugung, dass wir sorgfältig sein müssen im Umgang mit Konzepten und damit, wie diese Konzepte ein Ausstellungsprojekt prägen. Wenn ich über Verwandtschaft und Ontologie nachdenke, dann geht es um mehr als axiomatische Ideen, um Orte der Kontingenz. Ich glaube nicht, dass Kunst Konzepte illustriert. In diesem Fall hoffe ich, dass die Konstellation von Arbeiten in der Ausstellung zu einer anderen Herangehensweise an die Kolonialgeschichte aufruft. Es gibt eine Tendenz, diese Geschichte(n) im Sinne harter Politik zu interpretieren, was dazu führt, dass das Intime, das Persönliche und Leidenschaftliche negiert wird. Und dadurch werden Systeme der Verwandtschaft und der Gemeinschaft ignoriert, die das Leben überhaupt erst möglich gemacht haben. Mit dieser Ausstellung versuche ich genau darüber nachzudenken.
* Mein Dank gilt Sam Simon, dem Team des Times Art Center Berlin und insbesondere allen Künstler*innen von ›Más Allá, el Mar Canta‹ für ihr Vertrauen.
Will Fredo Furtado ist Künstler, Autor und stellvertretender Chefredakteur von ›Contemporary And‹.
TIMES ART CENTER BERLIN
Más Allá, el Mar Canta. Diasporic Intimacies and Labor
16 SEP—19 DEC
Eröffnung 15 SEP, 16—20 Uhr