»Recherche ist nie neutral«

von 
Sung Tieu © Diana Phammatter

Die Künstlerin Sung Tieu ist dieses Jahr für den Preis der Nationalgalerie nominiert. Wir haben mit ihr über die Rolle der Recherche in ihrer Arbeit gesprochen und darüber, wie man sie einbindet.

Sie sind dieses Jahr eine von vier Nominierten für den Preis der Nationalgalerie. Was planen Sie für die Ausstellung im Herbst?

Meine Arbeit zum Preis der Nationalgalerie baut auf meiner Ausstellung ›Multiboy‹ in der GfZK in Leipzig auf. Basis für die Ausstellung war eine Flugliste, aus der hervorging, welche vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in welche Fabriken in der DDR gingen. Ich habe anschließend Originalprodukte zusammengetragen—von Tampons und Kondomen bis hin zu Schuhpaste und Waschmittel—, die von diesen Arbeiter*innen produziert wurden. Mir ging es darum, die unsichtbare Arbeit, die in diesen Produkten steckt, sichtbar zu machen.

 

Und welche Rolle spielen dabei die konkreten Einzelschicksale? Sind die gezeigten Gegenstände beispielsweise an einzelne Personen gebunden?

Für mich geht es in der Ausstellung eher um das größere System, das Menschen, Arbeitsprozesse und Transaktionen dokumentiert—eine persönliche Ebene mache ich nicht wirklich auf. All das war hauptsächlich Recherchearbeit, die ich im Bundesarchiv gemacht habe, wo vor allem die Korrespondenzen zwischen den unterschiedlichen Ministerien der DDR aufbewahrt werden. Die konkreten Menschen tauchen in diesen Akten meist nur anonymisiert auf, in Zahlen—oder eben, wenn sie auffällig werden: Die und die Person hatte einen Unfall, die und die ist gestorben, die und die Person ist schwanger, was machen wir jetzt mit ihr? Denn als Vertragsarbeiter*in durfte man nicht schwanger werden. Das war nicht die Absicht des Arbeitsprogramms. Anderswo geht es um Vertragsverlängerungen oder Sonderurlaub, dann ist mal wieder jemand abgehauen.

Sung Tieu, No Gods, No Masters, 2017, HD-Video und 4-Kanal-Ton, Filmstill. © Sung Tieu / Emalin, London and Sfeir-Semler, Hamburg & Beirut

Wie haben Sie diese Dokumente anschließend in die Ausstellung integriert?

Die Dokumente, die in der Ausstellung gezeigt werden, sind nicht als tatsächliche Fundstücke zu sehen, sondern wurden von mir transkribiert und in ein neues Layout überführt. Eine solche Form der Übersetzung in eine künstlerische Sprache ist mir wichtig. Denn obwohl der Text im Grunde derselbe bleibt, ändert sich dabei die Art der Information. Es tritt etwas hinzu oder verschiebt sich. Zudem steckt in der Transkription, im sturen Abtippen auch schon wieder eine Form der Arbeit—und es macht einen gewaltigen Unterschied, ob eine solche Arbeit geleistet wird, ganz egal, ob man sie sieht oder nicht.

»Mir geht es gar nicht darum, eine feste Methode zu definieren. Es ist ja gerade Ausdruck einer künstlerischen Freiheit, das Vorgehen jedes Mal ändern zu können.«

Inwiefern ist ein solches eher aneignendes Arbeiten mit Dokumenten für Sie auch eine Art Methode?

Mir geht es gar nicht darum, für meine Arbeit eine feste Methode zu definieren. Es ist ja gerade Ausdruck einer künstlerischen Freiheit, das Vorgehen jedes Mal ändern zu können. Ich passe also auch den Umgang mit Recherchematerial von Anlass zu Anlass an. In meiner Ausstellung ›Zugzwang‹ im Haus der Kunst in München beispielsweise hatte ich Dokumente aus Asylverfahren verwendet, diese aber anders als für ›Multiboy‹ auch inhaltlich modifiziert und dazu in den Text dieser starren, festschreibenden und Realität produzierenden bürokratischen Dokumente eingegriffen. Zum einen, um sie zu verallgemeinern, aber auch, um dem Gefühl etwas entgegenzusetzen, dass man diesen offiziellen Dokumenten ja nicht zuletzt aufgrund ihrer unübersichtlichen Kleinteiligkeit ausgeliefert ist. Wer kämpft schon dafür, dass diese eine kleine Frage in einem Fragebogen mit hundert anderen Fragen geändert wird? Aber es ist gerade deswegen wichtig, buchstäblich ins sogenannte Kleingedruckte einzugreifen.

 

Wäre es für Sie denn eine Option, Recherchematerial sozusagen ›direkt‹ auszustellen—ohne weitere Bearbeitung?

Pure, rein dokumentarisch präsentierte Recherche in künstlerischen Arbeiten ist meinem Empfinden nach eher langweilig. Das ist mir zu linear und vermittelt zudem ein zwingendes ›A-führt-zu-B‹-Gefühl. Dabei ist Recherche nie neutral, auch wenn sie es vorgibt zu sein. Deswegen möchte ich das Material immer auch künstlerisch und formal verstehen. In der künstlerischen Bearbeitung lassen sich komplexere Konflikte abbilden und es lässt sich danach fragen, mit welcher Art von Information man es eigentlich zu tun hat und wie diese Information ausgelegt wird. Jenseits der Fakten rückt dann noch etwas anderes in den Blick: die Mechanismen, die sie fabrizieren.

HAMBURGER BAHNHOF—MUSEUM FÜR GEGENWART—BERLIN
Preis der Nationalgalerie 2021. Lamin Fofana. Calla Henkel & Max Pitegoff. Sandra Mujinga. Sung Tieu
16 SEP 2021—27 FEB 2022
Vorbesichtigung im Rahmen der Berlin Art Week am 15 SEP ab 20 Uhr mit vorab gebuchtem Zeitfensterticket.

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