Selbstbestimmt, polyglott, international und vielseitig

von 
Foto: Oliver Möst

Die freien Berliner Projekträume und -initiativen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Kunst- und Kulturszene der Stadt. Matthias Reichelt erläutert in seinem Essay ihre tragende Rolle.

Seit 2009 existiert das Netzwerk freier Berliner Projekträume und -initiativen, besitzt seit 2015 den rechtlichen Status eines eingetragenen und gemeinnützigen Vereins und umfasst nunmehr über 120 Projekträume und -initiativen. Dank seiner energischen Lobbyarbeit kann das Netzwerk auf erstaunliche Ergebnisse zurückblicken. Hauptsächlich ihm ist es zu verdanken, dass es solche institutionalisierten Errungenschaften wie den ›Projektraumpreis‹ (seit 2012) und die zweijährige Basisförderung (seit 2020) überhaupt gibt, die bei der Senatsverwaltung für Kultur und Europa auf offene Ohren stießen. Aufseiten der Politik geht es nicht ›nur‹ darum, Kunst zu fördern, sondern auch um Stadtmarketing.

Die Kunstszene wird gerade in Berlin nicht nur von den Museen, Theatern und Opern geprägt, sondern ebenso von den Kunstvereinen, Galerien und nicht zuletzt von der großen Anzahl diversester Projekträume und -initiativen. Letztere bilden eine fluide Szene, die einer ständigen Veränderung unterliegt. Dabei sind rasant steigende Gewerbemieten die hauptsächliche Ursache, dass Projekträume schließen müssen, um häufig an anderen, neuen Orten wieder zu öffnen. Die meisten von ihnen erzielen keine kommerziellen Gewinne und sind eher Experimentalräume für neue, junge und internationale Künstler*innen, bei denen noch nicht gleich die Sammler*innen Schlange stehen.

»Die Projekträume und -initiativen sind dezentral über die ganze Stadt verstreut, haben extrem flache oder meist gar keine Hierarchien und leisten Kunst- und Bildungsarbeit in den Nachbarschaften.«

Der Erfindungsreichtum und die Fantasie bei der Programmatik der verschiedenen Projekträume und -initiativen sind reich und äußerst ›divers‹. Diesen letztgenannten Begriff nutze ich aber bewusst ebenso in Hinblick auf Gender und Ethnie. Denn viele Projekträume waren durch ihren ›Grassroots‹-Charakter gerade auch hierbei sehr früh in ihrer programmatischen Aufstellung engagiert, da sie durch oftmals starke Kiezverankerung wesentlich näher an den jungen und multinationalen Künstler*innen angesiedelt waren und eine geringere Hürde und Schwelle zeigten als die etablierten Kunstinstitutionen.

Die Projekträume und -initiativen sind dezentral über die ganze Stadt verstreut, haben extrem flache oder meist gar keine Hierarchien und leisten Kunst- und Bildungsarbeit in den Nachbarschaften. Auch in der Raumfrage offenbart sich eine Vielfalt, die Kunst in den kleinsten Räumen, Zellen und an den ›unmöglichsten‹ Orten platziert. Die Palette reicht vom Trafo- oder Pförtner- bis hin zum Gewächshäuschen über ehemalige Tankstellen, Schiffe, Schaufenster, ob auf der Straße oder im U-Bahnhof; von Vitrinen über reguläre und umfunktionierte Laden- und Kellerräume bis hin zum virtuellen Raum. Das Gleiche gilt für die Programmatik, die sowohl Stipendien und Residenzen umfasst wie Kulturaustausch, Fort- und Weiterbildung, philosophische, kultur- und kunstwissenschaftliche Debatten, Vorträge, Lectures und Vermittlung bis hin zur traditionellen Kunstausstellung.

»In den Projekträumen und -initiativen wird mit Kunst experimentiert, werden neue Formen von Präsentation, Kollektivität und sogar Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme vorgestellt, diskutiert und erprobt.«

Programmatisch bieten die Projekträume und -initiativen radikal-politische Subversion, humorvolle, ironische und sarkastische Ausstellungen bis hin zu komplizierten und feinsinnigen Projekten mit ephemerer Kunst, wissenschaftsbasierten Ausstellungen, Konstruktivistischem, Sound-Art, Abstraktionen oder sozialpolitischen Interventionen. Frech, seriös, traditionell, avantgardistisch, minimalistisch, bukolisch, barock oder in der respektlosen Geste des Punk, diskursiv und auch hart mit Dissonanzen, Gesellschafts-, ja Kapitalismuskritik, das alles findet sich bei den vielen Projekträumen und -initiativen. Der Impetus bei allen ist ein Wille zum Ausdruck, zur Selbstäußerung, als ein wichtiger Bestandteil von Identität durch Arbeit.

Dass dies unter keineswegs rosigen Bedingungen—Förderung hin, Förderung her—geschieht, weiß dabei jede*r. Hier wird mit Kunst experimentiert, werden neue Formen von Präsentation, Kollektivität und sogar Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme vorgestellt, diskutiert und erprobt. Derlei Prozesse führen zu einer enormen Professionalisierung, zu internationalen Beziehungen und zu ausgeklügelten Fördermodellen. Die meisten der Betreiber*innen (oftmals selbst Künstler*innen) arbeiten auf prekärer Basis und im Zeichen großer Selbstausbeutung. Solche Verhältnisse mit doppelter oder dreifacher Belastung lassen sich nicht lange aushalten, auch das ist ein Moment, das bei der Fluktuation von Projekträumen—neben dem Druck der stetig steigenden Gewerbemieten und der damit verbundenen Verdrängung—eine Rolle spielt.

»Die Zeit der zum Stillstand verurteilten Kunst und Kultur hat vielen die Bedeutung von Kunst gerade durch ihr Fehlen vor Augen geführt.«

Die Fragilität der Existenz solcher von unten kommenden Eigendynamiken in Form von Projekträumen und -initiativen von Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen sowie Ausstellungsmacher*innen muss immer wieder betont werden, trotz der Unterstützung durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Denn bei zunehmender, respektive fortdauernder Coronakrise und vor allem angesichts des defizitären Haushalts als Folge diverser Pandemiemaßnahmen, deren langfristige Auswirkungen noch gar nicht absehbar sind, könnte es für die Kultur und die freie Szene Berlins eng werden.

Die Zeit der zum Stillstand verurteilten Kunst und Kultur hat vielen die Bedeutung von Kunst gerade durch ihr Fehlen vor Augen geführt. Kunst- und Kulturveranstaltungen bieten kulturelle und politische Bildung und sind sehr wohl systemrelevant. Projekträume und -initiativen, die mit großer Verve der Beteiligten betrieben werden, sind dabei ein unverzichtbarer Teil, aber aufgrund ihrer fragilen Finanzierung nie sicher und immer wieder bedroht.

 

Dieser Text ist die gekürzte und überarbeitete Version eines Essays von Matthias Reichelt, der in der Publikation ›X-Raum *10 Jahre—Auszeichnung künstlerische Projekträume und -initiativen‹ bei bdv—Bruno Dorn Verlag erscheint.

NETZWERK FREIER BERLINER PROJEKTRÄUME UND –INITIATIVEN E.V.
Auszeichnung künstlerischer Projekträume und -initiativen
FR 17 SEP, 17 Uhr

Ausstellung ›X–Raum‹
16—26 SEP 2021

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