Verletzlichkeit und Stärke

von 
Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, 2021 Schenkung der Baloise Group, cameron clayborn, homegrown #1, 2021, Haarperlen, Dämmung, Papier, Gipsdeckenfarbe und Drahtseil, 246,38 × 86,36 × 15,24 cm.

In unserer Reihe ›Die Arbeit‹ stellen das Team der Berlin Art Week Kunstwerke vor, die uns aufgefallen sind. Die Auswahl ist subjektiv, die Kriterien offen. Dieses Mal: Dominikus Müller über cameron clayborns ›homegrown #1‹ im Hamburger Bahnhof—Museum für Gegenwart Berlin

»Verletzlichkeit ist der höchste Beweis für Stärke«, schreibt cameron clayborn in einem kurzen Text im Katalog zur Ausstellung ›nothing left to be‹. Nur um kurz darauf mit einer, so heißt es dort, »kindlichen Frage« fortzufahren: »Wenn Stärke stofflich wäre, wie würde sie aussehen?« Gute Frage. Wirklich.

Denn welche Materialität wäre denn ein adäquater Ausdruck von Stärke? Noch dazu einer Stärke, die ein Bewusstsein von der Verletzlichkeit hat? Sähe diese Stärke etwa, wie es im Text weiter heißt, »grau, gelb, blau, orange, braun oder rot« aus? Wäre sie »matschig, klebrig, fest oder hart«? »Kalt, warm oder heiß«, »weich oder stachlig«? Und warum bitte soll diese Frage »kindlich« sein, wie clayborn sich ausdrückt? Weil sie das Konkrete einfordert? Das Greifbare, das Sichtbare, das Haptische? (Also das nur vermeintlich Einfache und Direkte?) Vielleicht. Wahrscheinlich sogar.

»›Wenn Stärke stofflich wäre, wie würde sie aussehen?‹ Gute Frage. Wirklich.«

Nehmen wir also einmal an, clayborns eigene Skulpturen formulierten eine Antwort auf diese Frage nach der Stofflichkeit einer Stärke, die sich verletzlich geben kann— eine Antwort, die sich vielleicht (wahrscheinlich sogar) weniger in Worten zum Ausdruck bringen ließe, als dass sie sich im spezifischen Material zeigt, ihn dessen bewusster Auswahl, in der Behandlung und Bearbeitung, kurz, der Formgebung. Nehmen wir also eine Skulptur wie ›homegrown #1‹ von 2021, die gemeinsam mit ›homegrown #2‹ aus der gleichen Serie im Rahmen des Baloise Art Prize als Schenkung an den Hamburger Bahnhof—Museum für Gegenwart Berlin ging und während der Berlin Art Week nun dort in einer Preisträger*innen-Ausstellung gezeigt wird. Sehen wir uns ›homegrown #1‹ also einmal genauer an.

›homegrown #1‹ hat, für eine Skulptur nicht unbedingt alltäglich, eine Vorder- und eine Rückseite, einmal Weiß gehalten und hergestellt aus einem rauen Material, das als ›Popcorndecke‹ bekannt ist, ein andermal aus einem dunkelblau melierten Dämmmaterial, das aus zerkleinerten Jeans-Resten besteht. An den Rändern, den Übergangszonen zwischen vorne und hinten, finden sich – stummeligen Tentakeln gleich – kleine Fortsätze und Auswüchse, die hie und da mit Perlen geschmückt sind. Fraglos, man hat es bei dieser Skulptur in der Anmutung mit einem Körper zu tun, aber eben mit einem flachen (fast wie bei einem freistehenden Relief). Und es fällt auf, dass dieser Körper, dünn und weich und sich nach unten hin verjüngend, nicht aus eigener Kraft stehen kann, sondern mit dünnen Drahtseilen an der Decke befestigt werden muss.

 

»An den Rändern, den Übergangszonen zwischen vorne und hinten, finden sich – stummeligen Tentakeln gleich – kleine Fortsätze und Auswüchse, die hie und da mit Perlen geschmückt sind.«

Das sieht man also, wenn man sie sich genauer ansieht, diese Arbeit: eine ganz bestimmte Stofflichkeit, einerseits weich, andererseits doch auch hart, dabei schon in ihrer Oberfläche eindeutig strukturiert; eine ganz bestimmte, wenngleich amorphe Form, die konkrete Assoziationen weckt: ein Kokon, eine riesige Hülle, eine Art überdimensioniertes Eiersäckchen wie diese, in denen manche Hai-Arten ihren Nachwuchs verbergen und schützen, bis er groß und stark genug ist, um selbst auf die Jagd zu gehen; schließlich, und nicht zuletzt: einen ganz bestimmten Stand im Raum, wackelig und angewiesen auf stützende Befestigung, dennoch präsentiert als stolzes, hoch erhobenes Gegenüber. So zeigt sich all das offen und direkt im Körper dieser Arbeit—Verletzlichkeit ebenso wie Stärke.

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